„Doch nicht nach mir, oder? Er kennt mich ja nicht einmal! Und woher weiß er, dass ich in dieses Tal geritten bin? Ach, Blödsinn!“ Wenn er nicht von den schrecklichen Geschichten des schwarzen Beduinen gewusst hätte, wäre er jetzt einfach aufgestanden und hätte dem da unten einen Gruß zugerufen und gefragt, was diese komische Wolke da sei. Aber so! Sharif wusste keinen Rat. Sein Herz pochte. Er hatte Angst und fühlte sich hilflos.
Plötzlich stach der suchende Blick des Beduinen exakt in seine Richtung und Sharif glaubte, entdeckt worden zu sein. Vor Schreck wandte er sein Gesicht ab.
„Oh, nein! Er hat mich bestimmt gesehen und kommt gleich!“ Seine Finger gruben sich tief in die Kieselsteine, und die Harnblase gab erneut nach. Ihm kam nicht einmal der Gedanke zur Flucht. Wie auch, er wäre ihm ja direkt in die Arme gelaufen. Stattdessen wartete er auf einen festen Griff im Nacken. Sharif bibberte.
„Wäre ich doch bloß nicht hier her geritten!“, tadelte er sich im Stillen. Aber es geschah nicht, was er befürchtet hatte. Verdutzt blickte Sharif auf und traute sich, erneut ins Tal zu sehen.
Der schwarze Beduine stand immer noch am selben Fleck. Der riesige Hengst jedoch verlor die Geduld und bäumte sich auf. Was für ein Kraftprotz, staunte Sharif. Dabei fiel das dunkle Gewand des Beduinen nach hinten und Sharif wurde nun Zeuge eines außergewöhnlichen Zaubers: Es kam ein funkelndes Schwert zum Vorschein. Es war von ganz besonderem Wert, was der Junge zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte. Die bunten Edelsteine, die das Schwert zierten, strahlten selbst im schummrigen Licht. Sharifs Augen weiteten sich. Die Angst verflog sogar für einige Momente, so sehr faszinierte ihn der völlig unerwartete Glanz. Es erinnerte ihn an seinen geliebten See mitten in der Oase, auf dessen Oberfläche die Sonne Perlen formte, die so intensiv glitzerten, dass sie einen fast schon blendeten.
„Bah!“, entwich es dem Jungen.
Der Hengst beruhigte sich wieder und trat auf allen vier Beinen. Dann scharrte er abwechselnd mit den Vorderhufen. Der Beduine saß fest im Sattel und ließ sich von der Eigenwilligkeit seines Pferdes nicht beirren. In dieser Pose fiel sein Umhang wieder zurück über das leuchtende Schwert und verbarg es wie einen Schatz. Sharif hoffte es noch mal sehen zu können und streckte den Hals. Aber der Beduine setzte zum Rückzug an. Er wendete das Pferd und ließ es losgaloppieren. Endlich konnte der Hengst seiner Spannung freien Lauf lassen und schoss nach vorne. So schnell wie er gekommen war, ritt er wieder in die Berge zurück und sollte dort irgendwo verschwunden bleiben. Die dunkle Wolke folgte ihm im selben Tempo wie ein großer Schirm. Für einige Momente hallte das Donnern der Galoppsprünge nach. Als sich der aufgewirbelte Staub langsam legte, kehrte auch die Stille wieder ein. Die Sonne füllte das Tal jetzt vollends aus und es machte den Eindruck, als wäre überhaupt nichts Besonderes geschehen. Sharif wagte sich immer noch nicht zu bewegen. Das eben Erlebte hielt ihn starr, wie elektrisiert. Erst als er einen vertrauten warmen Atem im Nacken spürte, löste er sich. Zulu war an ihn herangetreten und gab ihm zu verstehen, dass die Luft jetzt rein sei. Er stand auf und umarmte Zulus Hals. Als er ihre Wärme spürte, fiel auch der restliche Schrecken von ihm ab.
„Puh! Da haben wir noch mal Glück gehabt! Am besten wir hauen ganz schnell ab, bevor der Beduine zurückkommt.“ Zulu nickte mit dem Kopf – jawohl, nichts wie weg! Ihre Geste hätte auch jeder Nichtpferdekenner verstanden. Die beiden stolperten aus dem Dunkel der Höhle hinaus in den hellen Tag. In dem Moment, als Sharif sich aufs Pferd schwingen wollte, hörte er ein schwaches Piepen.
„Ach, dich hätte ich beinahe vergessen!“ Er ließ Zulu stehen und suchte nach dem Falken. Nach wenigen Schritten hatte er den Vogel gefunden und kniete sich vor ihn nieder. Er spürte nicht einmal die spitzen Steine, die sich in seine Haut gruben.
„Du lebst ja noch!“ Überrascht musterte er den Falken, der wie eine tote Henne auf dem Rücken lag. Sein Piepen wurde heftiger, als sei es ein Hilfeschrei. Sharif wusste im Moment nicht, was er tun sollte und glotzte den Falken einfach nur an.
Dieser erwachte aus seiner Starre und versuchte sich zu drehen. Dabei stellte er den linken Flügel etwas auf, ganz sachte, dann immer weiter bis er auf den Bauch rollte. Jetzt blieb der Vogel eine Weile hocken, als müsste er den Schmerz erst mal verdauen. Dann stellte er sich auf die Beine und streckte den linken Flügel. Sharif glaubte schon, er würde gleich davon fliegen, aber der andere Flügel schien nicht in Ordnung zu sein. Wie angewachsen blieb er am Körper des Falken haften. Blut klebte an seinem Gefieder. Der Vogel piepte aufgeregt und hüpfte hilflos vor Sharif umher.
„Oje, wenn er nicht mehr fliegen kann, dann ist das sein Tod! Entweder wird er verhungern, oder ein Schakal frisst ihn!“, überlegte Sharif. Ihm tat es unsagbar leid, dass er diesen Greifvogel verletzt hatte, wo er doch mit allen Tieren eine innige Freundschaft pflegte. Aber wie sollte er auch ahnen, was der Angriff zu bedeuten hatte?
„Jetzt verstehe ich!“, stieß er aus. „Ohne dich wären wir direkt in die Arme des Beduinen gelaufen! Du hast uns vermutlich das Leben gerettet!“ Der Falke hatte sein Hüpfen eingestellt und hörte dem Jungen zu. Sein Kopf wechselte ruckartig in verschiedene Richtungen. „Weißt du was? Wir nehmen dich mit und pflegen dich gesund! Was hälst du davon Zulu?“ Aber er drehte sich nicht einmal zu ihr um. Sharif war viel zu aufgeregt.
„Hoffentlich hackst du nicht in meine Finger!“ Langsam und ganz behutsam legte er seine Hände wie Schaufeln um den Vogel und hob ihn auf. Der Falke ließ dies bereitwillig zu. Jetzt erst bemerkte Sharif, dass der Vogel einen kleinen goldenen Ring um einen Fuß trug.
„Nanu, du musst wohl jemandem gehören! Das schauen wir uns zu Hause genauer an. Aber jetzt sollten wir wirklich schnellstens fort! Wer weiß, wie viel Zeit uns zur Flucht noch bleibt!“
Der Abstieg ins Tal erwies sich viel beschwerlicher als der rasante Aufstieg. Sie rutschten und stolperten mehr als sie gingen. Sharif sorgte sich um Zulus zierliche Beine, die im losen Geröll keinen festen Halt fanden. Er selbst hatte Mühe, das Gleichgewicht auf dem Pferderücken zu halten. Mit viel Geschick bewältigte die Stute diese Wegstrecke und fand endlich sicheren Halt unten im Tal.
Sharif überließ ihr das Tempo und freie Zügel. Am gleichmäßigen Gang erkannte er, dass sie nicht zu Schaden gekommen war. Als der Weg sich besserte und sie sich dem Ausgang des Tals näherten, legte Zulu an Geschwindigkeit zu. Sharif drehte sich ein paar Mal um. Nein, verfolgt wurden sie nicht.
Mit Leichtigkeit überquerte die Stute auch diesmal die Sanddünen. Sharif fühlte sich jetzt sicher und gerettet. Immer wenn er mit Zulu galoppierte, der heiße Wüstenwind ihm durchs Haar fuhr und an seinem Hemd rüttelte, spürte er die Weite der Freiheit. Hin und wieder schaute er nach dem Falken, den er sachte an seine Brust drückte.
„Hoffentlich überlebt er! Vater weiß bestimmt, was in so einem Fall zu tun ist!“
Zwischen der letzten Düne und der Oase erstreckte sich eine flache Ebene. „Gleich sind wir da! Ich sehe schon die ersten Palmen!“, rief er seiner Stute zu, als wüsste sie es nicht besser, wohin sie die ganze Zeit lief. Plötzlich bemerkte Sharif einen Reiter, der ihnen entgegenkam. Für einen kurzen Moment dachte Sharif an den schwarzen Beduinen. Aber schnell verschwand der Schreckensgedanke, denn der Junge erkannte die vertraute Person.
„Vater! Vater, wir kommen! Hier sind wir!“ Zulu raste direkt auf die Person zu.
„Oh, dem Himmel sei Dank! Mein Sohn ist wieder Heim gekehrt!“ Der alte Mann jubelte und ließ seinen Esel so schnell laufen, wie ein Esel nur laufen kann. Zulu machte kurz vor dem Grautier eine Vollbremsung und begrüßte diesen mit einer ordentlichen Salve aus Sand. Dann standen die beiden Nüstern an Nüstern und beschnupperten sich. Sharif hob sein rechtes Bein über Zulus Hals und sprang auf den Boden. Sein Vater kam mit offenen Armen auf ihn zu und schloss ihn darin ein.
Читать дальше