Zuerst durchzuckte ihn ein Schmerz, der ihm den Atem raubte. Dann schnappte er nach Luft und mit dem nächsten Lidschlag spürte und hörte er gar nichts mehr. Der Junge hatte das Bewusstsein verloren.
Währenddessen erklomm Zulu den steinigen Berghang wie eine Gämse und entwickelte in ihrer Panik unglaubliche Kletterfähigkeiten. Der stechende Schmerz jagte sie den Berg hinauf. Geröll und Steine purzelten dabei ins Tal hinab. Es sah fast so aus, als ob sie in einer selbst ausgelösten Gerölllawine mit nach unten gerissen werden würde. Aber sie war immer ein Sprung schneller. Zulu hatte Glück und erreichte bald ein kleines Plateau. Hier machte die Stute halt. Ihre Nüstern waren gebläht und der Atem ging stoßweise, während der Schweiß in grauen Bahnen durch ihr Fell rann.
Vor Sharifs Augen war es immer noch schwarz, aber er konnte ganz genau Zulu wiehern hören. Er schlug die Augen auf und sah in den hellen Himmel. „ZULU!“, schrie es in seinem Kopf, sie ist in Gefahr! Fühlte er noch Schmerzen? Wenn ja, dann nahm er sie nicht zur Kenntnis. Es galt nun einzig allein, der Stute zu folgen. Sharif rappelte sich auf und stand schnell auf den Füßen. Er schaute, aus welcher Richtung das Wiehern her drang.
„Ah, da oben bist du! Warte ich komme!“ Sie stand als weißer Fleck etwa 100 Meter über ihm. Mit gestrecktem Hals trompetete Zulu ihre Laute ins Tal. Sharif rannte los. Nach wenigen Schritten war er gezwungen, auf allen Vieren zu krabbeln. Der Hang war zu steil. Er kam nicht so schnell voran, wie es Zulu gelungen war. Immer wieder rutschte er mit den losen Steinen ein Stückchen talwärts. Zulu feuerte ihn mit den höchsten Tönen an. Sharif blickte zu ihr auf und hatte das Gefühl, kaum vom Fleck zu kommen.
„Das kann doch nicht sein!“ Er biss auf die Zähne und mühte sich weiter ab. Da erschien das nächste Übel. Schnell duckte der Junge den Kopf, als der Falke mit einem Schrei über ihn hinweg schoss. Sharif konnte sogar die Zugluft spüren. Der Vogel drehte und kam erneut im Tiefflug angesaust. Immer und immer wieder. Sharif hing schutzlos am Geröllhang, aber der Falke griff ihn nicht mehr an. Es schien eher so, als wollte er ihn vorantreiben. Manchmal schlug Sharif nach dem Falken, wie nach einem lästigen Insekt. Natürlich konnte er ihn nicht treffen.
„Hau bloß ab!“, zischte er, mehr Puste blieb ihm nicht übrig. Gleich hatte er es geschafft. Zulus Anblick schenkte ihm die restliche Kraft und er zog sich aufs Plateau. Hier blieb er erst mal liegen und japste nach Luft. Zulu schnupperte sogleich an ihm. Sharif stöhnte vor Erschöpfung, wusste aber, dass er sich hier nicht ausruhen durfte. Er setzte sich auf und wischte mit dem Hemdsärmel Staub und Schweiß von der Stirn. Plötzlich machte sein Herz einen Satz vor Freude: Hinter ihnen bot sich eine Öffnung im Felsen an.
„Zulu, komm!“ Noch schwach auf den Beinen, stolperte er die wenigen Schritte dort hin. Zulu folgte brav, und beide verschwanden in einer kleinen Höhle. Geschafft! Hier waren sie vorerst sicher. Sharif lehnte sich an den warmen Körper seiner Stute, grub sein Gesicht in ihre Mähne und fand ein wenig Entspannung.
„Wie gut, dass ich dich hab!“ Er klopfte den muskulösen Hals und ließ wieder von ihr ab. „Lass mal sehen, ob bei dir alles in Ordnung ist.“ Im Halbdunkel ging er um die Stute und untersuchte sie nach Verletzungen.
„Ho ho, Zulu, jetzt ist alles gut!“, versuchte er das Pferd ruhig zu halten. Schnell entdeckte er einen roten Punkt auf Zulus Hinterteil, aus der eine feine Blutspur floss. Sonst schien sie unversehrt. „Na schön!“ Die Erleichterung darüber verjagte den Schrecken, aber ließ stattdessen Zorn aufsteigen. Er streichelte Zulu noch einmal, kraulte ihr den Hals und ließ sie in der Ecke stehen. Dann kroch er zum Höhlenausgang zurück. Von hier aus hatte er einen sehr guten Rundumblick ins Tal.
Vor ihm erstreckte sich ein Geröllhang, der unten an einem schmalen Weg endete und auf der anderen Seite wieder aufstieg. Sharif blickte nach links, woher er gekommen war, dann nach rechts, dem Weg in die Berge folgend. Nichts regte sich.
„Du kleiner Bastard!“, schimpfte Sharif. „He, zeig dich doch, wenn du den Mut hast!“, rief er ins Tal hinab. „Das war gemein! Und das kriegst du zurück! Warte es nur ab!“ Er wühlte in den Steinen und fand gleich ein scharfkantiges Exemplar. Diesen legte er in den Riemen seiner Steinschleuder, spannte sie und hielt den Stein fest zwischen Daumen und Zeigefinger.
„Ich habe jede Menge Zeit!“, sprach er zu sich selbst. Allerdings blieb ihm auch nichts anderes übrig, als geduldig auf der Lauer zu liegen. Alles blieb wie ausgestorben. Keine Bewegung, kein Geräusch. Sharif hörte einzig seinen Atem, doch dieser war nicht sonderlich beruhigend.
Plötzlich flatterte etwas vor seiner Nase. Sharif riss die Augen auf. Völlig überraschend landete der Falke in der Nähe des Höhleneingangs. Etwa einen Steinwurf entfernt hockte er da und beäugte seine Umgebung. Obwohl Falken ein ausgezeichnetes Sehvermögen besitzen, konnte er den Jungen in der Dunkelheit des Höhleneingangs nicht erkennen. Jetzt lag die Gunst auf Sharifs Seite. Besser hätte sich der Vogel zum Abschuss nicht präsentieren können. Sharif nutzte die Gelegenheit, diesem abnormen Falken eine Lektion zu erteilen. Er spannte den Riemen noch stärker an und zielte ruhig und konzentriert. Dann ließ er den Riemen los. Der Stein traf den Falken so heftig, dass dieser umgerissen wurde. Reglos blieb er auf dem Rücken liegen.
„Juchu! Habe ich dich erwischt!“ Sharif sprang auf und hüpfte auf der Stelle. Dann wandte er sich seiner Stute zu und triumphierte: „Den nehmen wir mit nach Hause! Vater wird mir sonst nicht glauben!“ Zulu blieb immer noch wie eine gemeißelte Statue stehen. Sie schien zu ahnen, dass noch etwas folgen würde. Gerade wollte Sharif nach dem Falken sehen, als Donnerschläge vom anderen Ende des Tals aufbrausten. Erschrocken zog er sich wieder in die Höhle zurück.
„Was ist denn jetzt schon wieder los? Hier gehen aber seltsame Dinge vor sich!“ Die Neugierde trieb ihn, nachzusehen. Vorsichtig auf dem Bauch liegend, robbte er wieder zum Höhlenausgang. Dann blickte Sharif ins Tal hinunter. Das Donnern und Krachen glich einem Gewitter, was jedoch sehr selten in der Wüste vorkam. Sharif fühlte den Erdboden leicht beben. So etwas kannte er nicht einmal von Erzählungen. Mit nur einem Herzschlag war sein Körper voller Angst vergiftet und verspannte seine Muskeln. Aber es sollte noch unheimlicher werden.
Zuerst stieß sein Blick auf eine dunkle Wolke, die in das Tal vom Berginnern kommend, hineinströmte. Dieses fremde Ding schürte seine Furcht noch mehr an. Er wagte nicht mal einen Lidschlag, denn da gab es noch mehr zu entdecken. Im Schatten der Wolke und unten im Tal sprengte an vorderster Front ein riesiges Tier alles zur Seite! Steine spritzten wie Matsch auf. Eiseskälte durchströmte den kleinen Jungen, als ihm klar wurde, wer da durchs Tal preschte.
„Der schwarze Beduine!“, hämmerte es in seinem Kopf. Aber dessen ebenso schwarzer Hengst schien im Moment viel gefährlicher zu sein. Das Tier besaß Hufe, so groß wie Sharifs Kopf. Endlich löste sich der Junge aus der Starre und rutschte langsam in die Höhle zurück.
„Oh Zulu, was wird jetzt nur geschehen? Da unten reitet der große Schwarze! Ich glaube, er ist kein so freundlicher Mann! Aber vielleicht findet er uns gar nicht. Wenn wir ganz still bleiben? Also, psst!“ Die Stute rührte sich nicht. Schließlich war ihr das Donnern und Beben unter den Hufen auch nicht geheuer.
Mit einem Mal brach das Donnergetöse ab. Das weckte Sharifs Neugierde. Wieder robbte er auf dem Bauch liegend zum Höhlenausgang. Ganz vorsichtig spitzte er nach unten. Der schwarze Beduine stand jetzt unterhalb seines Verstecks. Aber irgendwie war der Tag dunkler geworden. Der Junge blickte nach oben. Und tatsächlich, diese seltsame Wolke, aus der ein lautes Summen ertönte, schwebte über Sharifs Versteck. Genaues konnte er nicht erkennen. Dieses Fremdartige im dämmrigen Licht jagte ihm noch mehr Angst ein. Es wurde feucht zwischen seinen Beinen. „Oh!“, entwich es ihm. Er petzte die Beine zusammen, als könnte dies weiteres verhindern. Dann fokussierte er den Beduinen. Dessen Hengst tänzelte nervös auf der Stelle, und weißer Schaum tropfte aus seinem Maul. Sharifs Blicke hafteten an dem Reiter. Er war mit einem langen grauen Tuch umwickelt, nur für die Augen blieb ein Schlitz offen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches für einen Beduinen. Der Fremde blickte suchend um sich. Und Sharif grübelte natürlich, nach was er wohl suche!
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