„Oh! Ist das widerlich!“, grauste es Sharif. Daraus bestand also die geheimnisvolle Wolke. Nie hätte er an Insekten gedacht. Das konnte doch nicht wahr sein! Ungläubig starrte er hinauf in das Insektenmeer. Sein restlicher Mut schwand schlagartig. Dann fiel ihm wieder der Beduine ein und fokussierte diesen.
Oje, und der war schon ganz nah! Wenige Meter vor Sharif stieg der geheimnisvolle Reiter ab. Er ließ das Pferd stehen, das sich beruhigte und kam mit großen Schritten auf Sharif zu. Alles geschah jetzt blitzschnell. Ehe der Junge reagieren konnte, packte der Beduine ihn zuerst am Kopf und zog ihn an seinem linken Ohr. Da! Endlich hatte er, was er schon so lange suchte und erkannte die kleine Tätowierung hinter Sharifs Ohrläppchen.
„Hab ich dich endlich! So lange suche ich schon nach dir!“, dröhnte eine tiefe Stimme. Sie klang streng und alles andere als freundschaftlich.
„Ah, das tut weh, lass los! Was willst du von mir?“ Sharif drehte und wand sich in dem schmerzhaften Griff des Beduinen. Damit machte er es nur schlimmer. Vor seinen Augen flatterte das graue Leinen seines Gegners und es roch scharf, vielleicht nach Urin, oder so was ähnlichem.
„Du bist eine Missgeburt und hast kein Recht auf Leben!“, grollte der Fremde voller Hass.
„Hä? Aua, was redest du da?“ Der Beduine lachte vor Vergnügen und war sich seiner Übermacht bewusst. Zulu hingegen konnte Sharifs Leid nicht länger mit ansehen. Wie ein Blitz schoss sie nach vorne und biss dem Beduinen in den Arm, womit er Sharifs Ohr lang zog. Damit hatte er nicht gerechnet und der Angriff fand die gewünschte Wirkung, aber es sollte auch Konsequenzen haben. Der Beduine brüllte vor Schmerzen und Zorn auf. Endlich ließ er von Sharif ab. Dann wandte er sich der Stute zu, trat nah an sie heran und schlug mit ungeheurer Kraft, als sei es eine Ohrfeige die zierliche Stute von sich.
Für einen Augenblick konnte Sharif das Gesicht seines Widersachers erhaschen. Die Haut war faltig und von dunkelbrauner Farbe. Seine Augen wurden von einem schwarzen Nichts ausgefüllt. Schwarz, genau so, wie es ihm Vater erzählt hatte. Und diese Kreatur stank bestialisch nach Verfaultem, nach Verbranntem.
Der Schlag hatte Zulu tatsächlich zu Fall gebracht. Am Boden liegend versuchte sie sich wieder aufzurichten. Der Schock traf sie mehr als der Schmerz. Nie zuvor hatte sie ein Mensch einfach weg bugsieren können. Wo gab`s denn so was?
Währenddessen eilte der Beduine zu seinem Hengst. Sharif rieb das fürchterlich brennende Ohr und erinnerte sich an die Steinschleuder. Schnell spannte er den Riemen, zielte auf den Kopf des Beduinen und ließ den Stein los. Dieser schlug mit solch einer Wucht an den Hinterkopf des Schwarzen, was jeden anderen Menschen in die Knie gezwungen hätte. Aber mit dem hier war alles anders. Der Stein prallte ohne sichtbares Ergebnis ab und plumpste zu Boden. Der Beduine schien diesen Schlag nicht einmal bemerkt zu haben. Ohne sich auch nur umzudrehen suchte er etwas Bestimmtes an seinem Sattel. Endlich hatte er es gefunden und zog es aus der Scheide. Sharif war wie versteinert.
Zum einen hatte seine stärkste Waffe versagt, und zum anderen hielt der Schwarze das funkelnde Schwert in der Hand. In diesem Moment bekam die Situation eine feierliche Stimmung. Sharif spürte beim Anblick des Schwerts kaum noch Angst, es war einfach zu schön um sich davor fürchten zu müssen. Allerdings sagte ihm auch sein Verstand, dass der Beduine ihm das Schwert nicht nur zeigen wollte! Die stinkende Kreatur trat langsam und siegessicher auf den Jungen zu. Breitbeinig blieb er vor dem bereits tot geweihten Feind stehen.
„Nieder mit dir!“ Sharif gehorchte wie ein Hypnotisierter und fiel auf die Knie. Seine Arme hingen kraftlos herab. Mit der Steinschleuder in der Hand kam er sich unsagbar lächerlich vor, im Vergleich zu diesem Prachtstück. Der schwarze Beduine stieß das Schwert mit der Spitze in den Sand und ließ es los. Wie ein Kreuz stand es nun vor Sharif. Dieser blickte an der Waffe rauf und runter.
„Oh!“, entwich es ihm. Der goldene Schaft war von zarten Linien durchzogen und das Handstück ausschließlich mit Edelsteinen bestückt. Die komplette Waffe schien makellos, wie eben erst geschaffen. Es ging tatsächlich ein Zauber von den leuchtenden Steinen aus. Sie stahlen Sharif die Gedanken zur Flucht oder Abwehr. Er blieb ganz ruhig und vergaß alles um sich herum. Dem Beduinen war zu wenig Leid geboten. Der Junge sollte doch vor Angst in die Hose machen und um Gnade winseln! Es wurde auch höchste Zeit, endlich zur Sache zu kommen, nämlich die Vollstreckung!
„Mm!“, brummte er kurz und packte das Schwert am Griff. Dann riss er es aus dem Boden. In der Luft wechselte er den Griff, so dass er jetzt gut zuschlagen oder zustechen konnte. Sharifs Augen folgten dem Schwert in tiefer Demut, das gleich sein Leben beenden würde. Der Beduine hielt die Waffe in beiden Händen und holte langsam nach hinten aus. Diese mumienähnliche Gestalt spannte seine Muskeln an und konzentrierte sich auf das bevorstehende Ritual. Sharif schaute zum Schwert auf. Das Metall glänzte sogar im Schatten der Insektenwolke. Starr und mit gestrecktem Hals bot sich Sharif seinem Henker an. Selbst Zulu konnte nicht mehr helfen.
Als der Beduine zum Finale ansetzte, huschte ein Schatten über seine Gestalt. Er bemerkte es und hielt irritiert inne. Ein großer Fehler, wie sich herausstellte, denn im nächsten Moment schlug ein fremder kleiner Körper in sein Gesicht ein. Der Treffer landete genau zwischen seinen Augen, wobei der Kopf des Beduinen nach hinten federte. Blut floss sogleich aus der Stirn und der kleine Verursacher flatterte davon. Dieser völlig überraschende Angriff verstörte zwar den Schwarzen und hatte in letzter Sekunde Sharifs Leben gerettet – aber besiegt war jener damit noch lange nicht.
„Hau ab, du lästiges Wüstengeflügel!“, schimpfte er und konzentrierte sich erneut auf den Todesschlag. Diesmal würde ihn nichts mehr aufhalten. So viele Jahre hatte er schon nach dem Jungen gesucht. Endlich war es so weit! Sein Gehirn sendete seinen Muskeln den Befehl zum Zuschlagen.
In diesem entscheidenden Moment fiel wie aus dem Nichts eine Armee von Falken über den Beduinen mitsamt seinem Hengst her. Über hundert Vögel stürzten wie Pfeile mit ihren spitzen Schnäbeln in das Fleisch der Opfer. Kurz vorm Einschlag pressten sie die Flügel dicht an ihren Körper und gewannen noch mehr an Schnelligkeit. Für den Beduinen stellten sie nicht wirklich eine Gefahr dar. Dennoch versuchten die Falken durch Zupfen an seinem Leinen, Pieken und Bohren in seine Haut, ihn abzulenken und Zeit zu gewinnen.
Pferd und Reiter waren übersät mit Vögeln, die im Kampf reichlich Federn ließen. Der Hengst hüpfte wild umher, schnappte nach den Falken, aber es waren zu viele, die ihn malträtierten. Seine Panik ließ das Weiße aus den Augen hervorquellen. Währenddessen summte die Wolke ihr gewohntes Lied und thronte regungslos über dem Spektakel.
Sharif kniete noch immer andächtig und bemerkte nichts von den kriegerischen Falken. Der Bann des Schwerts hielt ihn gefangen, welches jetzt vor ihm im Sand lag. Nun wiederholte sich das gleiche Spiel, wie damals im Tal der Muchal Berge.
Aras musste seinem Freund erneut ein paar Haare aus dem Kopf reißen, damit dieser in Bewegung kam. Nach der zweiten Attacke erwachte Sharif endlich aus seiner Starre. Er blickte hektisch um sich und versuchte zu verstehen, was hier gerade geschah. Der Beduine fuchtelte wild um sich und versuchte die Massen von Falken abzuwehren. Pferd, Reiter und Falken glichen einer sich wild drehenden Säule. Sand und Federn wirbelten in der Luft.
„Aras?“ Die schmerzende Kopfhaut bestätigte seine Vermutung. Rasch stand er auf und suchte nach Zulu. Diese wurde bereits von Aras auf die übliche Weise angetrieben, indem er heftig in ihr Hinterteil hackte. Wenn das so weiter ginge, sind es nicht mehr die Kamele, die Zulu nicht ausstehen konnte. In diesem Moment fielen Sharif die letzten Worte seiner Großmutter ein.
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