Die Lache drängte die beiden in einen schwach beleuchteten Raum. Ein kalt glänzendes Etwas füllte das Zimmer. Seine Spitze verjüngte sich zu einer schwarzen Nase; kleine, schwarz umrandete Fenster durchbrachen das sterile Weiß. Große Düsen schlummerten am Heck.
»Ist das eine Raumkapsel?«, hauchte Daria und fuhr mit ihrer Hand über das eisige Metall.
»Es ist die Kapsel, die Kapsel aus dem Buch!«, antwortete Micha leise.
Die Oberfläche der Gefährts blubberte, eine Blase quoll heraus und platzte. Die Öffnung gab die Sicht in das Innere frei. Micha lugte hinein. Bunte Lichter leuchteten, schmale schwarze Sitzgelegenheiten fuhren aus dem Boden.
»Micha, lass uns umkehren!«
»Es gibt keinen Ausgang mehr!«, kicherte Riada und klatschte freudig ihre Deckel zusammen. »Ihr habt schon viel geschafft. Es gibt keinen Weg zurück. Daria, vertraue deinem Gefühl. Dein Wille, eure Eltern wieder zu sehen, ist stärker als deine Angst! Oder etwa nicht?«
Daria keuchte, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie setzte sich auf den Boden und vergrub ihren Kopf in den Händen. Eine zweite Blase erfasste Micha und zog ihn in das Innere der Kapsel.
»Wow, das ist alles cool hier!«, rief der Junge begeistert. »Bunte Knöpfe leuchten am Armaturenbrett! Das musst du dir ansehen!« Vorsichtig hantierte er an den Knöpfen. Rote und blaue Lichter blinkten, ein kleines Steuerrad wie das eines alten Segelschiffes fuhr aus dem Boden. Die Griffe glitzerten prachtvoll wie ein Regenbogen, manche waren abgerundet, andere hatten die Form spitzer Hörner. Er strich über die Oberfläche. Sie fühlte sich uneben und rissig an. Einer der gehörnten Griffe hatte eine leuchtend helle Spitze, die zarte Funken im Inneren der Kapsel versprühte.
Micha reckte seinen Kopf aus der Kapsel.
Seine Schwester saß noch immer regungslos am Boden, aber der fliederfarbener Saft wirbelte um ihre Füße.
»Folge der Flüssigkeit!«, flüsterte Riada. »Überwinde deine Ängste und geh!«
Die Lache schlängelte sich zur Kapsel. Mit starrem Blick stand Daria auf und folgte Riadas Anweisung.
Lautlos ging die Tür zu. Mit einem kräftigen Ruck stieß das Gefährt vom Boden ab. Die Wand des Labors glitt zur Seite; die Kapsel flog in die Dunkelheit.
Waya, die Schamanin der oberen Spirale, zupfte bedächtig kleine Runen aus ihrem Haarschmuck und breitete sie am Boden aus. Lange, schmale Tierhäute mit aufgefädelten Knochen verdeckten ihr Gesicht und ihren Körper, bunte, mit Tierfellen verwobene Federn und Knochen steckten in ihrem Haar. Aus ihrer Rocktasche zog sie ein schwarzes Säckchen hervor und öffnete es. Dann streute sie den Inhalt, etwas größere Runen, ebenfalls auf den Boden.
Sie entzündete dürre Äste einer Trauerweide und warf kleine Stücke von Tannenzapfen und getrockneten Pilzen in die Glut. Ein beißender Geruch von Wald und Schimmel durchzog ihre Hütte.
Waya nahm einen kleinen Kessel, füllte ihn mit Weidenstöcken, Kräutern und Wasser und setzte ihn auf das Feuer.
Bilder von zwei jungen Menschen blitzten in ihrem Kopf auf; sie ahnte, nein, sie wusste, dass die beiden Menschen der mittleren Spirale dringend ihre Hilfe brauchten! Aber dunkle Kräfte schwächten ihre seherischen Fähigkeiten, sie war nicht mehr die Schamanin, die sie einst gewesen war. Betrübt ließ sie ihren Kopf hängen.
»Ragmal, der elende Feigling, lässt uns alle im Stich!«, schimpfte sie vor sich hin. »Seine weise Kugel wüsste bestimmt Rat!«
Nach und nach streute sie weitere Kräuter in ihren Topf und fügte noch ein paar Körner einer eingetrockneten Frucht hinzu. Das Wasser kochte und die Weidenstöcke und Kräuter blubberten munter in dem Gefäß. Behutsam fächelte Waya den heißen Dampf ihrer Brühe über die Runen. Rote Schriftzeichen flackerten auf. Waya lächelte. Noch waren ihre Runen stark genug - noch! Die magischen Zeichen waren Wayas Schatz! Einer ihrer Vorfahren, ein mächtiger Schamane des goldenen Zeitalters, hatte Knochen sämtlicher Lebewesen der drei Spiralen gesammelt und sie mit Magie getränkt. Das Wissen der Alten schlummerte in diesen Runen.
Waya nahm den Kessel vom Feuer. Sie benetzte ein Tuch mit dem Gebräu und betupfte ihre Stirn, ihre Nase und ihre Augen. Dann träufelte sie noch ein wenig Flüssigkeit in ihre Ohren. Der Trunk schärfte ihre Sinne. Die restliche Flüssigkeit füllte sie in ein kleines Fläschchen, verschloss es, schnürte ein rotes Band um den Flaschenhals und verstaute es in ihrer Tasche.
Die Schamanin setzte sich auf den Boden. Liebevoll strich sie über ihre Runen.
»Stimmt es, dass das Geschwisterpaar bald kommen wird?«, murmelte sie. Die Knochen rückten zusammen, sie glitzerten und fremde Zeichen loderten auf.
»Sehr gut! Vielleicht sind es jene Geschwister, die uns Odgud, unser weiser Gott, vorhergesagt hat. Das Böse ist schon weit vorgedrungen, wir müssen ihm Einhalt gebieten!«
Die dürren Äste zischten und brodelten im Feuer. Eine helle Flamme wirbelte in der weißen Glut. Ein kleines Holzscheit sog gierig das Feuer in sich auf. Waya hob ihre Hand und streckte ihren Zeigefinger aus. Die Flamme fuhr in den Arm und verschwand in ihrem Körper. Wayas Blicke versanken in den Runen. Sie fühlte, dass sie irgendetwas übersehen hatte. Aber was?
Leises Raunen drang aus der Erde. Plötzlich rückten die Runen zur Seite. Ein hässlicher Wurm kroch aus dem Boden. Er war aalglatt und schleimig.
»Ein Nesmag!«
Langsam schlängelte sich der Wurm über die Runen. Er inspizierte jedes einzelne Zeichen und schüttelte angewidert seinen glitschigen Kopf. Jene Knochen, die er berührt hatte, wurden schwarz und zerfielen zu Staub. Dunkler Schleim überzog den Boden und vermischte sich mit dem trockenen Lehm zu einem stinkenden Brei. Waya rührte sich nicht, versteinert hockte sie am Boden. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn, ihr Atem war dünn und flach.
Der Wurm kroch um ihre Fersen, schlängelte sich um ihre Zehen und bahnte sich einen Weg zu ihren Schenkeln. Immer wieder hob das kleine Ungeheuer seinen Kopf und äugte neugierig in der Gegend umher. Gierig leckte es seine Lippen. Plötzlich reckte der Wurm seinen Kopf in die Höhe, starrte Waya an und grinste. Geschickt hantelte er sich an den Fellstreifen von Wayas Umhang hoch. Langsam kroch er bis zu ihrem Mund, ließ sich zwischen Nase und Oberlippe nieder und streckte seinen Kopf vor. Dann schlüpfte er in Wayas Nasenloch. Die Schamanin presste ihren Atem aus, aber der Nesmag robbte weiter. Wie gerne hätte Waya diesem elenden Vieh den Garaus gemacht, aber sie durfte ihn nicht töten. Das Schicksal Buntopias lag in ihren Händen. Lieber würde sie sterben!
Plötzlich zischte eine Flamme durch die Hütte und erfasste den Wurm, der schon halb in Wayas Nase verschwunden war. Das Tier schrie auf, die Glut verwandelte ihn in eine lodernde Schleimmasse. Ein spitzes Röcheln gurgelte aus seinem zahnlosen Maul; schließlich erfassten die Flammen auch seinen Kopf und bohrten sich in sein Gehirn. Schwarzer Rauch stieg aus Wayas Nase und der verkohlte Körper des Wurmes bröckelte heraus.
Die Schamanin keuchte. Schweiß tropfte auf ihren Umhang und versickerte in den Tierhäuten. Sie drehte sich um – von wo war diese Flamme gekommen; die Flamme, die ihr Leben gerettet hatte. Ragmal, der Dorfälteste, stand hinter ihr und lächelte zufrieden.
»Nesmags!«, flüsterte sie schwach.
»Ich habe sie gefühlt. Ich lasse dich niemals im Stich, auch wenn du es glaubst! Nur das Feuer der Freiheit konnte dich retten!«
»Das Feuer der Freiheit! Wie gerne würde ich diese Magie beherrschen!«, fauchte Waya zornig und fluchte leise vor sich hin.
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