»Ich kann nicht kämpfen. Ich kann auch nicht in einer Kapsel fliegen. Du weißt doch, ich mag es gar nicht, wenn es eng und schmal um mich ist, wenn ich keinen Platz habe!«
»Heute Nacht werden wir die geheime Maschine suchen!«
» ... im Labor im Keller, wo denn sonst ...«, hörte Micha Hrüdigers harte Worte.
»Vielleicht steht diese Maschine in einem Labor im Keller!«, grinste Micha aufgeregt und klopfte seiner Schwester auf die Schulter. »Heute Nacht suchen wir das Labor!«
Stockend langsam, fast lähmend rückten die Zeiger der Uhr vorwärts. Nervös ruckelte Micha auf seinem Stuhl hin und her. Das Abendessen verlief quälend wie immer. Onkel Hrüdiger war fies und gemein – ein richtiger Kotzbrocken!
»... und im Übrigen erwarte ich mir, dass ihr euch immer wie Erwachsene benehmt. Euer Jugendkram interessiert mich nicht!«, bellte Hrüdiger und würgte den letzten Bissen hinunter.
»Onkel Hrüdiger, warum bist du Lehrer geworden? Du kannst Kinder und Jugendliche nicht ausstehen!«, platzte Micha wütend heraus und legte klirrend seine Gabel auf den Teller.
Hrüdiger kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen, Zornesröte färbte seine Wangen.
»Micha, ich glaube, dass uns das nicht zu interessieren hat. Wir können froh sein, dass uns Onkel Hrüdiger ein Dach über dem Kopf angeboten hat«, versuchte Daria die Situation zu retten. »Vielen Dank für das wunderbare Mahl! Komm Micha, wir gehen. Gute Nacht, lieber Onkel!«
Widerstrebend erhob sich Micha. Eigentlich hätte er noch gerne auf eine Antwort gewartet, aber wahrscheinlich war Darias Entscheidung, das Speisezimmer zu verlassen, klüger.
Wortlos nickte Hrüdiger und die beiden verschwanden.
»Blödmann!«, schalt Daria ihren Bruder. »Du weißt, dass Hrüdiger eigenartig ist. Du musst lernen, deinen Mund nicht immer nur aufzureißen. Manchmal muss man auch klein beigeben. Willst du alles versauen? Willst du heute nicht mehr das Labor suchen?«
»Du hast ja Recht! Ich bin schon so aufgeregt!«, antwortete Micha kleinlaut und ließ seinen Kopf hängen.
»Ich auch, aber wir müssen warten, bis alle schlafen. Wenn uns irgendjemand erwischt, sind wir geliefert!«
»Wann ist es denn endlich soweit?«, murmelte Micha nervös und hypnotisierte die Zeiger seiner Uhr. Aber diese krochen nur im Schneckentempo vorwärts.
»Blöde Dinger!«, grummelte er weiter und wäre am liebsten sofort los gesprintet, um das Labor und die geheimnisvolle Maschine zu suchen.
Die Sterne und der Mond glitzerten vom Himmel, es war eine klare Nacht. Daria blätterte nach wie vor in ihrem geheimnisvollen Buch und betrachtete jedes einzelne Bild.
Im Haus war es ruhig geworden, nichts war mehr zu hören.
»Ein paar Minuten noch, dann können wir los«, sagte Daria leise und klappte Riada zu.
Das Buch wurde kleiner und kleiner, es schrumpfte auf die Größe eines zusammengefalteten Papiertaschentuchs und verschwand in Darias Hosentasche.
Die Geschwister streiften einen dünnen Pullover über, schlüpften in ihre Sneakers und öffneten die Tür.
Das schwache Licht einer Wandlampe erhellte den Flur. Leise schlichen sie zur Treppe, die ins Erdgeschoß führte. Als Micha auf die zweite Stufe trat, knarrte sie laut und plötzlich sank die Treppe ein. Ächzen drang aus dem Keller nach oben und erfasste alle Stufen. Die Treppe wackelte, das Ächzen wurde lauter.
Eine unsichtbare Kraft zog die Stufe, auf der Micha stand, in die Tiefe. Er krallte sich am Treppengeländer fest, er schwankte und wackelte. Die Stiege pulsierte, ihre Stufen verschmolzen ineinander. Dunkler Nebel quoll aus den Ritzen und umhüllte Micha. Versteinert stand Daria auf der obersten Stufe. Der Geruch von warmen, modrigem Holz vermischte sich mit dem fauligen Gestank des schwarzen Nebels. Die Treppe wurde weich, sie flimmerte, löste sich auf, nur ihre Umrisse wankten schemenhaft. Leise schob sich eine mächtige Tatze aus den Stufen und griff nach Daria.
Micha drückte sich kräftig vom Geländer ab und schnellte hoch. Entsetzt riss Daria ihren Mund auf, aber der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Micha schnappte den Arm seiner Schwester und rannte mit ihr los. Die Stiegen flimmerten verwaschen, er sah nicht, wohin er trat. Er rannte einfach. Plötzlich spürte er festen Boden unter seinen Füßen, seine Umgebung wurde klarer. Keuchend zog er seine Schwester hinter die Ledercouch. Das große Sofa war ein perfektes Versteck; hier konnte sie niemand entdecken.
»Das war knapp!«, hauchte Daria. »Was war das?«
»Irgendetwas versucht uns aufzuhalten. Was glaubst du, kann das sein?«
Ratlos zuckte das Mädchen mit den Schultern.
Im Keller polterte es, krachend fiel eine Tür ins Schloss.
»Dort muss das Labor sein«, flüsterte Micha und nahm die Hand seiner Schwester.
»Ich habe Angst! Vielleicht ist es besser, wenn wir aufgeben.«
»Kneif jetzt nicht, du bist immerhin die Ältere. Üb schon mal, mutig zu sein«, grinste Micha. »Wie willst du sonst gegen Drachen und Basilisken kämpfen?«
»Ich will gar nicht kämpfen, ich will in mein Bett!«
»Glaubst du wirklich, dass wir so einfach zurück können? Die Treppe wird uns verraten. Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als weiter zu gehen. Willst du nicht wissen, was mit unseren Eltern passiert ist? Du bist ein richtiger Angsthase!«
Eine schallende Ohrfeige klatsche Micha mitten ins Gesicht. Erschrocken blickte Daria ihren Bruder an.
»Entschuldige«, stammelte sie. »Ich weiß nicht, was gerade mit mir war.«
Micha grinste: »Gut gemacht! Du kannst dich ja doch durchsetzen. So eine Ohrfeige von dir kann ich schon verkraften. War ja schließlich das erste Mal.«
»Weißt du, wo das Labor ist?«, flüsterte Daria und klammerte sich an ihren Bruder. »Ich habe keine Ahnung, wo sich Hrüdiger den ganzen Tag herum treibt!«
»Ich glaube, wir müssen in den Halbstock im Keller. Hast du schon mal die dicke Stahltür gesehen? Dahinter muss das Labor sein und dort müssen wir hin!«
» ... ach, Frau Belheim, morgen früh brauchen Sie die Kinder nicht zu wecken. Lassen Sie die beiden schlafen, solange sie wollen. Wenn sie nach mir fragen, sagen Sie ihnen bitte, Arno und ich hätten zu tun. Wir dürfen unter keinen Umständen gestört werden«, hörten sie Onkel Hrüdiger plötzlich aus dem Keller.
»Selbstverständlich, ich werde mich um die beiden kümmern«, antwortete Frau Belheim, die Haushälterin, und zog verärgert ihre Augenbrauen in die Höhe. Schon wieder hatte sie die beiden Plagegeister am Hals. Sie konnte diese unerzogenen Fratzen nicht ausstehen!
Pfeifend kam Hrüdiger die Stufen hoch und verschwand in seinem Zimmer. Frau Belheim zog ihren Arbeitskittel aus, warf ihn achtlos über einen Stuhl und verließ das Haus. Sie würde morgen früh die Erste sein, die wieder emsig im Haus herum wieselte.
Nun war wirklich alles still und ruhig. Micha zog seine Schwester aus dem Versteck hervor. Sie schlichen durch den Wohnsalon Richtung Keller. Kleine Wandlampen leuchteten schwach, jedoch hell genug, um ihnen den Weg in den Keller zu weisen. Daria und Micha standen vor einer schweren Stahltür. Sie glänzte silbergrau und roch nach hartem kalten Metall. Es gab kein Schloss, keinen Riegel, kein Schlüsselloch, nur hartes glänzendes Metall.
»Und wie kommen wir da jetzt hinein? Bitte, Micha, lass uns umkehren!«
»Schau mal in deinem schlauen Buch nach, vielleicht zeigt es uns, wie wir die Tür öffnen können.«
Daria zog Riada aus der Hosentasche. Sofort entfaltete sich das Buch zu normaler Größe und schlug sich auf der gewünschten Seite selbst auf. Ein Bild des stählernen Eingangs flammte auf. In der Mitte der Tür zuckten zwei verschnörkelte Halbkreise, die von einem Dreieck eingeschlossen waren, auf. Das Dreieck stand auf dem Kopf, seine Spitzen zeigten jeweils in eine Ecke. Eine rote Linie entsprang aus dieser Figur, irgendwann färbte sich die Linie orange, schließlich grün und blau. Äste flossen aus dem Gebilde und strebten in die Ecken der Tür. Weitere Zeichen zuckten auf, sie bestanden aus Linien, Kreisen und Halbkreisen. Die fremden Symbole waren mehrfarbig, es waren weder Buchstaben noch geometrische Figuren. Ein Zeigefinger fuhr entlang der Spirallinien die Zeichen ab und mündeten schließlich in der Mitte des Ornaments. Daria und Micha vernahmen das leise Knacken einer sich öffnenden Tür. Dieses Geräusch kam aus dem Buch. Die Zeichnung erlosch. Micha grinste.
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