Lautes Flügelschlagen unterbrach Agor'As Nickerchen. Zwei Drachen, ein obsidianschwarzer und ein in allen Farben schillernder, waren im Anflug.
»Habt ihr euer Werk auch schon vollbracht?«, rief Agor‘A den beiden zu und gähnte herzhaft.
»Klar doch! Wir sind immer fleißig«, neckte der schwarze Drache den Zwerg, dessen Zipfelmütze schlaff herunterhing. »Du bist wohl genauso müde wie deine Mütze, Agor‘A?«
»Die Sonne und die Hitze auf Buntopia machen mich fix und fertig!«, brummelte der Zwerg vor sich hin und gähnte nochmals.
»Wir sind auch froh, wenn das Labyrinth endlich fertig wird. Morgen ist es soweit. Ein paar Felsbrocken fehlen noch, aber dann ist es geschafft!«
»Ein Labyrinth? Was für ein Labyrinth?«, fragte Agor‘A und spitzte seine Ohren. Seine Müdigkeit war schlagartig verflogen. Neugierig reckte sich die Quaste seiner Mütze den beiden Drachen entgegen.
»Typisch Agor'A aus dem Clan der Meißelschwinger«, ätzte der Schwarzdrache belustigt. »Wenn ihr einen Meißel und einen Stein in der Hand habt, hört und seht ihr gar nichts. Seit mehreren Monaten schuften die Batoniden an ihrer Verteidigungsanlage, dem Unterwasserlabyrinth. Die besten Ingenieure der Fischartigen haben sich über das Aussehen und die Größe ihre Köpfe zerbrochen. Und deine Statue, Agor‘A , wird die Krönung!«
»Eine Verteidigungsanlage? Die Fischartigen leben im Wasser, wozu brauchen sie eine Verteidigungsanlage? Keiner von uns, und wir Zwerge schon gar nicht, kommen ihnen in den abscheulichen Fluten zu nahe!«
»Stimmt, Agor‘A. Aber man munkelt, dass der Batonidenkönig einen Traum hatte. In diesem Traum ist ihm der dunkle Herrscher erschienen.«
»Der dunkle Herrscher? Den gibt‘s doch gar nicht!«, knurrte Agor'A unwirsch und schüttelte den Kopf. »Das sind alles nur Legenden und Mythen! Seit Jahrhunderten leben die Völker unserer Spiralen in Frieden; viele auf der oberen, wie ihr Drachen und die Einhörner. Auf der mittleren sind die Lebewesen, die sich Menschen nennen, zuhause und wir Zwerge auf der unteren Spirale. Die Äste der Lebensbäume sind eng miteinander verschlungen. So war es, so ist es und so wird es immer bleiben! Der König der Batoniden muss sich irren. Vielleicht hat er nur schlecht geträumt!«
»Vielleicht aber auch nicht! Was passiert, wenn unsere Spiralen zerbrechen?«, warf der Buntdrache ängstlich ein.
»Das ist unmöglich! Nichts und niemand kann die Einheit der drei Spiralen zerstören«, antwortete Agor'A ärgerlich. »So steht es im Codex geschrieben!«
»Ein Wächterbatonide hat mir erzählt, dass der Codex ...!«
»So einen Quatsch will ich gar nicht erst hören!«, unterbrach Agor‘A den Buntdrachen und schnaubte zornig. »Der Codex ist und bleibt Buntopias Gesetz! Und das ist unantastbar, selbst für den dunklen Herrscher.«
Der Drache nickte zufrieden, kleine Flammenzungen tänzelten keck um seine Nüstern.
»Morgen stellen wir das Labyrinth fertig und deine Statue wird die Krönung! Hat dein Sohn nicht morgen Geburtstag? Nimm doch Aga mit! Die Batoniden werden die Fertigstellung des Wasserirrgartens bestimmt groß feiern!«, rief der Schwarzdrache und schlug kräftig mit den Flügeln. Damit rauschten die beiden an Agor‘A vorbei.
Agor'A schmunzelte. Morgen war tatsächlich Agas hundertster Geburtstag. Aus dem Kleinen war ein stattlicher junger Zwerg geworden, er war der ganze Stolz seines Vaters.
Leise raschelten die Blätter von Omu und Umo. Das Geäst der beiden Lebensbäume trug die Worte der Drachen und des Zwergs tief in das Erdinnere.
»Der Codex hält mich nicht auf. Nichts hält mich auf! Doch ich werde noch vorsichtiger sein«, murmelte die dunkle Gestalt und rüttelte an den Ketten. »Dieser elende Zauberer! Bestimmt hat er den Fischartigen die Befestigungsanlage eingeredet. Magier, unterschätze mich nicht, noch bin ich schwach, aber meine Kräfte kehren zurück!«
IM HIER
UND JETZT
DIESE GESCHICHTE
KÖNNTE
DURCHAUS WAHR SEIN
Kapitel eins

Das fremde Leben
Ihr könnt froh sein, dass euch euer Onkel aufgenommen hat, ihr undankbaren Bälger!«, schimpfte Frau Belheim, die Haushälterin, und riss die Tür des Kinderzimmers auf. »Widerwärtiges Gesindel, etwas Besseres haben eure Eltern euch wohl nicht beigebracht! Hier werden andere Seiten aufgezogen! Samantha, eure Mutter, hat immer geglaubt, sie sei etwas Besonderes und euer Vater, Keter, na ja, der hat wohl nicht anders können. Aber jetzt seid ihr hier! Herr Hrüdiger kann endlich vernünftige Menschen aus euch machen! Wird auch Zeit, immerhin seid ihr schon Teenager!«
Mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloss.
»Diese Jugend von heute!«, meckerte Frau Belheim weiter und stapfte davon. »Aus dem Mädchen wird nie etwas. Sie ist schon sechzehn und fürchtet sich vor allem! Und der Bursche: gerade mal zwei Jahre jünger als seine Schwester, aber immer oberschlau und weiß alles besser! Das gabs zu meiner Zeit nicht!«
Darias Augen glitzerten zornig, leise Tränen rannen über ihre geröteten Wangen.
»Sind wir wirklich so schrecklich?«, stammelte Daria tränenerstickt.
»Sicher nicht! Der Hausdrachen mag uns eben nicht! Stimmt, du bist zwar älter, aber du hast vor allem Angst. Ist doch egal, solange ich bei dir bin, ich habe dich immer beschützt!«
»Danke, Micha«, hauchte Daria und rieb ihren Arm. »Meine Schulter tut höllisch weh!« Ein heftiges Pochen und Pulsieren hob die zarte Haut ihrer Schulter. Es war, als wolle irgendetwas in ihr sich einen Weg nach außen bahnen.
»Mum fehlt uns eben!«
»Auch mein Arm ist so eigenartig heiß und geschwollen. Glaubst du, das ist jener Steinsplitter, den Mum manchmal erwähnt hat?«
»Quatsch nicht so einen Unfug, Micha, magische Steine oder Splitter gibt es nicht!«
»Aber Mum hat dir gegenüber doch öfters ...«
»Ich will nichts davon hören!«, unterbrach Daria ihren Bruder unwirsch. »Mum und Dad sind verschwunden, wir sind Gefangene in diesem fürchterlichen Haus. Onkel Hrüdiger ist ein Kotzbrocken und Frau Belheim ist um nichts besser! Lass mich in Ruhe!«
Zornig fischte sie ihr einziges Andenken, Samanthas regenbogenfarbiges Medaillon, aus der Lade und warf sich auf ihr Bett. Mit Tränen in den Augen strich sie über den bunt schillernden Anhänger. Ihre Gedanken wanderten zu jenem unseligen Tag zurück, an dem das Unglück geschehen war.
Micha hockte sich auf den Boden und vergrub sein Gesicht in den Händen. Auch er war verzweifelt und unglücklich.
»Tut mir leid«, stammelte Daria entschuldigend und wischte ihre Tränen ab. »Aber ich denke oft an früher. Wir hatten so ein schönes Leben und waren glücklich. Mum wäre niemals mit uns so umgegangen wie diese eingebildete Kuh!«
Daria hasste dieses Haus - es war fremd und unpersönlich. Die Eltern waren ein paar Wochen zuvor im Wald Holz fällen und wurden seither vermisst. Suchtrupps hatten sich aufgemacht, um Samantha und Keter zu finden, aber alle Bemühungen waren erfolglos. Die beiden waren wie vom Erdboden verschluckt. Seitdem lebten die Geschwister bei Onkel Hrüdiger. Er war unnahbar und streng, Widersprüche duldete er nicht. Bisher hatten Daria und Micha mit ihren Eltern in einem bescheidenen Häuschen gelebt; jetzt war alles anders. Onkel Hrüdiger logierte in einem kleinen Palast, den ganzen Tag wieselte Personal geschäftig umher und las ihnen jeden Wunsch von den Augen ab. Nur Frau Belheim, die Hausdame, war fies und kaltherzig und genauso widerlich wie Onkel Hrüdiger. Sie ließ keine Gelegenheit aus, um Daria und Micha unter die Nase zu reiben, dass sie Eindringlinge in ihrer heilen Welt waren.
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