Die Geschwister hatten eigene Zimmer, die mehr als doppelt so groß wie ihre alten waren. Die Einrichtung war luxuriös, aber kalt und befremdlich. Verstohlen wischte sich Micha eine Träne ab, schnappte die Zeitung, die am Boden herumlag und blätterte lustlos darin. Ein kurzer Artikel erweckte sein Interesse.
»Hier steht wieder etwas über ein verschwundenes Kind. Ein Junge, der in dieselbe Schule geht wie wir!«
»Kinder verschwinden nicht einfach«, murmelte Daria. »Wahrscheinlich sind die Eltern irgendwohin gezogen.«
»Das habe ich auch gedacht, aber gestern in der Schule habe ich ein Gespräch zwischen dem Sven und Emilia mitgehört. Es wird gemunkelt, dass immer wieder Kinder und auch Erwachsene verschwinden. Angeblich gibt es eine Maschine, die Menschen irgendwohin schickt.«
»So ein Unsinn! Du willst mir doch nicht weismachen, dass du diesen ...«
Lautes Donnergrollen unterbrach Daria. Der Himmel war schwarz. Ein Gewitter zog auf.
Daria sprang auf und verriegelte das Fenster. Sie hasste Gewitter! Ein greller Blitz stach in die Wolken.
»Ein Blitz hat in die Wolke eingeschlagen«, hauchte Daria dünn.
»Unfug, Blitze zucken aus den Wolken und schlagen in Bäume ein. Du siehst wohl Gespenster!«
»Schau doch, Micha, dort wo der Blitz in die Wolke eingeschlagen hat, schält sich ein schwarzes Etwas heraus!«
Wulstige Klauen mit spitzen Krallen quollen aus dem geballten Nebelgrau. Das Zwitschern der Vögel erstarb, Tiere flüchteten in ihre Höhlen, stumm hingen die Äste der Bäume herab. Ein zweiter Blitz zuckte in der Nebelmasse, ein schwarzes Gesicht quoll hervor, leblose Augen irrten suchend in der Landschaft umher.
Noch glitzerten vereinzelt, da wo die Helligkeit stärker als die Finsternis war, die Gipfel der Berge im Sonnenlicht – noch!
Eine kurze Windböe trieb den dunklen Atem der schwarzen Nebelwand über die Bergspitzen, das Glänzen der Felsen erlosch. Gierig verschlang das Schwarz die Sonnenstrahlen, die Farben des Himmels erkalteten.
Einer der Gipfel des nahen Bergmassivs, der Berg der Legenden, fauchte und stöhnte.
Er öffnete seine Spitze. Gesteinsbrocken wirbelten wie kleine Papierkügelchen durch die Luft, ein Lichtstrahl bahnte sich einen Weg aus dem Inneren des Berges und raste auf die schwarze Gewitterwand zu. Die Wolken ballten sich zusammen, sie verdichteten sich zu einer festen Kugel. Die Fratze zeichnete sich in der dichten Masse nun deutlicher ab. Sie lachte hämisch, packte das Licht und schleuderte es in den Krater zurück. Der Berg brummte. Zornig spie er Brocken für Brocken in die Finsternis. Die Fratze grinste erneut, hob ihre Klauen und stieß die Felsen von sich. Der Berg der Legenden grollte, knirschend schoben sich die Felswände zusammen, dicke Rauchschwaden drangen aus dem Berginneren.
»Micha, ich habe Angst! Was ist hier los?«, flüsterte Daria ängstlich und klammerte sich an ihren Bruder.
»Keine Ahnung, du bist doch die große Schwester und solltest es wissen!«
»Es sieht wie ein Vulkanausbruch aus, aber der Berg der Legenden ist kein Vulkan!«, flüsterte Daria geschockt.
Plötzlich öffneten die Wolken ihre Schleusen. Sie erbrachen das Wasser, das sie auf ihrem langen Weg gesammelt hatten. Wind kam auf, orkanartige Böen trieben die Blätter des Laubwaldes wie Spielbälle vor sich her. Äste knickten wie Zündhölzer. Der Sturm rüttelte am Hausdach und beutelte die Fensterläden.
Blätter und kleine Äste klatschten an die Fensterscheibe. Große Regentropfen trommelten gegen den Holzrahmen. Das Klopfen wurde lauter. Daria kniff die Augen zusammen und fixierte das Fenster. Da war etwas! Irgendetwas hämmerte gegen das Glas. Vorsichtig schob sie den Riegel zur Seite. Das Fenster sprang auf. Nasse Blätter schwebten ins Zimmer, es waren Blätter - eines Buches !
Eine Seite nach der anderen landete auf der trockenen Bettdecke, zwei dicke Buchdeckel stießen an den Fensterrahmen und flogen unbeholfen auf Darias Polster.
Die Seiten rückten zusammen, sie sortierten und schlichteten sich. Die Buchdeckel warteten geduldig, bis die Seiten zwischen ihnen verschwanden.
»So ein Sauwetter«, schimpfte eine tiefe Stimme leise. »So eine schlechte Behandlung haben wir uns nicht verdient!«
»Hat das Buch eben gesprochen?«, fragte Micha erstaunt.
› Weises Buch der Legenden‹ flammte in glühenden Buchstaben auf dem vorderen Deckel auf. Die spiralförmige Schrift drehte sich, zuerst langsam, dann immer schneller. Die Buchstaben flossen ineinander, ein buntes Medaillon wirbelte auf dem Einband umher.
»Wow, das ist ja cool«, kommentierte Micha trocken und griff nach dem Buch. Unwirsch rümpfte das Buch sein braunes Leder und rückte weg.
Daria starrte das Buch an.
»Micha, siehst du das?«, fragte sie leise ohne ihren Blick von dem Buch zu wenden. »Schau, dieses Medaillon schaut genauso aus wie jenes Amulett, das Mum um ihren Hals trug. Glaubst du, das hat etwas zu bedeuten?«
»Stimmt!«, murmelte Micha und streckte seine Hand nochmals aus. Doch wieder verzog sich der Buchdeckel ärgerlich und kroch langsam unter Darias Kopfkissen.
»Lass deine schmutzigen Finger von mir«, meckerte das Buch verärgert. Hastig zog Micha seine Hand zurück.
»Es kann tatsächlich sprechen!«, flüsterte Micha und stellte sich schützend vor seine Schwester. Wer wusste schon, was das Buch sonst noch alles konnte.
»Versuch du es mal!«, forderte Micha seine Schwester auf.
Daria streckte ihren rechten Arm aus. Ihre linke Schulter pulsierte heftig. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Arm bis in die Finger. Schmerzverzerrt zuckte sie zurück und fasste mit der rechten Hand auf die schmerzende Stelle. Langsam kam das Buch unter dem Polster hervor. Der Schmerz in ihrer Schulter ließ nach. Daria trat näher an ihr Bett und legte vorsichtig ihre rechte Hand auf den warmen braunen Ledereinband. Das Buch blieb liegen. Es schmiegte sich in ihre Hand. Behutsam fuhr das Mädchen über den Einband. Die Falten wurden glatter, der Einband wärmer. Daria setzte sich auf das Bett und nahm das Buch. Ein Gefühl von Wärme und Stärke durchflutete ihren Körper, ihre linke Schulter pulsierte heftig. Das Medaillon blitzte kurz auf, es drehte sich langsamer und versank im Einband. Behutsam öffnete Daria das Buch. Faltige Pergamentseiten kamen zum Vorschein.
»Da steht ja gar nichts!«, stellte Micha unwirsch fest. »Dieses Buch ist kein Buch, es tut nur so!«
Dünne Striche flackerten auf, das Blatt glättete sich und wurde weicher. Farben blitzten auf. Die Striche verschmolzen zu Figuren - ein Bild entstand!
»Schau mal«, flüsterte Daria und deutete auf die Zeichnung, »sind das nicht wir?«
Micha warf einen Blick auf die Seite. Tatsächlich, die Seite war nicht mehr leer, er sah zwei junge Menschen, ein Mädchen und einen Jungen, die wohl gewisse Ähnlichkeiten mit Daria und ihm hatten.
»Blätter weiter«, forderte Micha seine Schwester auf, »ich will wissen, was da noch so alles in dem Buch ist.«
»Glaubst du wirklich, dass wir das sind?«, fragte Daria und schüttelte den Kopf
»Wie sollten wir in das Buch kommen?«
»Klar seid ihr das, du Schlaumeier!«, meckerte die Stimme. »Wer außer euch sollte das sonst sein?«
Daria fuhr zurück und sprang auf. Polternd landete das Buch auf dem Boden.
»Das ist doch wirklich das Letzte! So eine Behandlung habe ich nicht verdient!«
»Wer bist du und warum kannst du sprechen?«
»Hast du geglaubt, ich bin stumm? Alle Bücher können sprechen, aber ihr Lebewesen der mittleren Spirale hört uns nie. Deshalb sind wir stumm.«
»Ich bin kein Lebewesen der mittleren Spirale, ich bin ein Mensch und lebe auf der Erde. Ich bin Micha und das ist ...«
»Ich weiß, wer du bist«, kicherte das Buch und klapperte belustigt mit dem Deckel, »aber ihr wisst nicht, wer ich bin!«
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