»Warum ich?«, fragte Daria. »Sagtest du nicht, dass wir beide diese magischen Fähigkeiten haben? Und warum haben wir sie überhaupt?«
»Micha kann nun über zwei Elemente herrschen, das Wasser und die Luft. Du, Daria, bist die Herrin über Feuer, Wasser, Erde und Luft. Selten gibt es Menschen, die alle vier Elemente beherrschen. Samantha war auch eine Ausnahme. Sie hat ihre Kräfte offensichtlich an dich weitergegeben.«
»Warum nicht auch an Micha?«
Ragmal überlegte. Er wusste nicht genau, was er den beiden sagen sollte.
»Euch ist doch bestimmt schon aufgefallen, dass ihr sehr unterschiedlich seid. Wie Feuer und Wasser, wenn man so sagen will.« Zufrieden schmunzelte er über seinen kleinen Scherz.
»Sicher!«, platzte Micha heraus. »Daria ist ein Mädchen und beschäftigt sich auch nur mit Mädelskram. Und ich mach halt die coolen Sachen!« Er konnte sich einen kurzen frechen Blick in Richtung Daria nicht verkneifen. Seine Schwester verdrehte nur die Augen und grinste zurück.
»Und sonst ist euch nichts aufgefallen? Keine Ähnlichkeiten, keine Unterschiede?«
Wieder war es Micha, der antwortete: »Na ja, Daria hat viel mehr von unserer Mutter als ich. Man braucht sie ja nur anzusehen. Jeder sagt, sie sieht genauso aus wie Mum. Sie hat sogar denselben dunkleren Teint wie sie und ich bin blass wie ein Gespenst. Aber das ist sicher vollkommen uninteressant. Ich meine, Daria und ich sind Geschwister, also sind wir in gewisser Weise gleich!«
»Nicht ganz«, widersprach Riada laut und machte es sich wieder in Darias Tasche gemütlich, »aber noch wird die Einigkeit der Spiralen nicht wahr!«
Der Boden bebte. Ein Spalt klaffte in der Erde und wurde breiter und größer. Zwei schwarze Flügel quollen aus dem Untergrund. Ihre Spitzen waren knorrig und schlaff, aber ihr Körper war stark und fest.
»Schütze die Geschwister vor den Flügeln des Vergessens«, schrie Waya und schob Daria und Micha hinter Ragmal.
»Wir müssen fliehen!«, brüllte der Dorfälteste, packte die Geschwister und rannte los. Aber die Schwingen waren schneller, sie hatten sich bereits um Darias und Michas Beine geschlängelt. Ragmal griff nach Wayas Holzaxt und drosch auf die Flügel ein. Schwarzes Blut spritzte aus den Wunden und besudelte Darias und Michas Gesicht.
Waya schoss Feuerbälle auf die Flügel und den Spalt. Heiseres Lachen dröhnte aus der Erde.
»Das nützt gar nichts!«, höhnte die fremde Stimme. »Die beiden sind mein! Die Flügel des Vergessens sind unbesiegbar!«
Kurz bebte die Erde nochmals, dann verschwanden die Geschwister im Abgrund!
Daria und Micha lagen auf einer Lichtung. Sanfte Sonnenstrahlen kitzelten ihre Nasen und wärmten ihre Körper. Daria schlug die Augen auf. Es war mitten am Tag, die Vögel trällerten ausgelassen und die Sonne lachte vom Himmel. Mühsam setzte sie sich auf. Ihre Augen brannten, die Arme schmerzten, ihr Bauch rumorte und die Beine waren schlapp. Micha lag neben ihr, er hatte die Augen geschlossen und schlief noch tief und fest. Daria rüttelte ihren Bruder.
»Wach auf, Micha. Wo sind wir?«
Der Junge schlug die Augen auf. Das Sonnenlicht brannte in seinen Augen. Er rappelte sich hoch, rieb seine Augen und gähnte laut.
»Ich habe keine Ahnung, wie wir hierher gekommen sind«, murmelte er. Sein Kopf war leer, er konnte sich an nichts erinnern.
»Das Einzige, woran ich mich erinnern kann, ist, dass wir Waya besucht haben!«, überlegte Daria.
»Die alte Hexe!«, schrie Micha böse und sprang auf. Von seiner Müdigkeit spürte er nichts mehr.
»Sie ist schuld daran, sie hat uns verhext und hierher ins Nirgendwo geschickt!«
»Wir sind gar nicht im Nirgendwo. Schau doch, da vorne ist das Dorf der Guildhar!«
Tatsächlich, nicht weit von der Lichtung entfernt, erspähte Micha die Häuser der Guildhar.
»Lass uns zurückgehen! Onkel Arno weiß sicher, was mit uns passiert ist!« Micha zog seine Schwester auf. Wackelig staksten die beiden durch das Gras, nur langsam kehrte die Kraft in ihren Beinen zurück.
»Ich werde zu Waya gehen und sie fragen, was sie mit uns angestellt hat.«
»Onkel Arno weiß es sicher besser. Außerdem können wir ihr nicht trauen, sie will nicht, dass wir unsere Eltern finden«, protestierte Micha und packte seine Schwester am Arm. »Wir gehen zurück ins Dorf!«
»Ich gehe zu Waya«, widersprach Daria scharf und riss sich los.
»Wie du willst. Du wirst schon sehen, was du davon hast. Du steckst wohl mit der Alten unter einer Decke! Auch gut, dann finde ich unsere Eltern eben allein!« Zornig stiefelte Micha in Richtung Dorf. Er kochte innerlich. Diese alte dämliche Hexe!
Micha erreichte das Dorf der Guildhar und betrat die kleine Hütte.
»Wie war eure Erkundungstour?«, fragte Arno als er seinen Neffen bemerkte. Michas Blick wurde eisig.
»Was soll die blöde Frage? Ich will wissen, was mit Daria und mir passiert ist.«
»Was meinst du?«, fragte Arno unschuldig.
»Wie sind wir auf diese Waldlichtung gekommen? Wir können uns an nichts mehr erinnern! Aber ich bin mir sicher, dass du weißt, was hier vor sich geht!«
Arno lachte kurz auf. »Also wirklich, Micha, wieso glaubst du, dass ich das weiß? Ich nehme an, ihr seid müde geworden. Das Klima hier auf Buntopia ist ein bisschen anders als auf der Erde. Wahrscheinlich habt ihr euch ins Gras gelegt und seid eingeschlafen. Hrüdiger und ich waren auch unterwegs; wir sind ebenfalls müde und erschöpft.«
Obwohl Arnos Erklärung plausibel klang, gab es aber doch noch einen Punkt, der Micha interessierte.
»Und warum können wir uns an nichts erinnern?«
Arno zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, es war alles ein bisschen viel für euch. Ihr seid müde und da kann es schon passieren, dass man etwas vergisst oder sich nicht erinnern kann.«
Arnos Plauderton verunsicherte Micha. Hatte sein Onkel Recht?
»Wo ist eigentlich deine Schwester?«, fragte Arno und klopfte dem Jungen auf die Schulter.
»Wir haben uns gestritten und sie ist lieber zu Waya gegangen. Wahrscheinlich lästern die beiden gerade über mich.«
Die letzten Worte blieben Micha fast im Hals stecken, denn plötzlich zuckte Arnos Buckel wild. Irgendetwas wollte heraus, an die Oberfläche. Arno nahm seinen Stock und stieß ihn heftig auf den Boden. Der Buckel beruhigte sich augenblicklich.
Micha starrte seinen Onkel verdattert an. »Was machst du da?«
»Manchmal spielen die Muskeln in meinem Buckel etwas verrückt«, beruhigte Arno den Jungen. »Wenn ich mich auf meinem Stab fest aufstütze und die Muskeln anspanne, lässt das Zucken nach.«
Micha nickte, aber er hatte das Gefühl, nein, er wusste, dass Arno ihm nicht die Wahrheit sagte. Bilder eines Zauberstabs schossen durch seinen Kopf, verblassten aber sofort wieder.
»Du solltest dich von Waya und Ragmal fernhalten«, begann Arno. »Ich habe das Gefühl, dass die beiden nur an sich denken. Aber wir brauchen sie, sie sind mit den Gewohnheiten der Guildhar am besten vertraut. Hrüdiger und ich wollen, genauso wie ihr beide, eure Eltern finden. Auf Hrüdiger und mich kannst du dich wirklich verlassen! Wir sind schließlich eine Familie!«
»Danke, Onkel Arno. Das habe ich Daria auch gesagt.«
»Werdet ja nicht zu sentimental!«, lachte Hrüdiger, der die letzten Wortfetzen der beiden aufgeschnappt hatte. Er stand im Türrahmen. »Packt euer Zeug, morgen beginnt unsere Reise. Suchen wir endlich eure Eltern!«
Daria war unterdessen den Weg zurück zu Wayas Hütte gegangen. Die Schamanin und Ragmal erwarteten sie vor dem Haus.
»Ich bin froh, Schätzchen, dass dir nichts passiert ist«, murmelte Waya und drückte Daria fest an sich.
»Wir sind auf einer Lichtung aufgewacht. Wie sind wir dorthin gekommen? Was hast du mit uns gemacht?«
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