Eine bunte Spirale flackerte auf Riadas Buchdeckel, Samanthas Gesicht schwebte hervor.
»Daria, jetzt ist die Zeit reif! Du und Micha, ihr seid etwas Besonderes. Riada will dein Bestes. Vertraue ihr!«
»Mum!«, rief Daria, aber Samanthas Gesicht verschwand.
Daria hob das Buch auf und strich über den Buchdeckel.
»Es tut mir leid«, stammelte sie verlegen, »es ist alles nur ein bisschen viel!«
»Geh hinaus an die frische Luft. Riada wird es dir diesmal nicht nachtragen«, beruhigte Waya das Mädchen. »Komm wieder, wenn es dir besser geht. Und dann gibt es Tee!«
Völlig durcheinander stapfte Daria in den Wald. Die Bäume in Gestalt von Riesen versperrten Daria den Weg. Sie schauderte. Wacker verteidigten die Waldbewohner ihr Zuhause.
»Kommst du von Wayas Haus? Wer bist du und was hast du hier zu suchen?«, brummte eine mächtige Fichte und raschelte bedrohlich mit ihren Ästen.
»Ich bin ...«, stammelte Daria, aber die Angst schnürte ihre Kehle zu.
»Wir schnappen nur ein wenig frische Luft«, antwortete Riada fröhlich, »Waya hat uns geschickt, die Waldluft tut mir und dem Mädchen gut!«
»Riada, bist du es wirklich? Willkommen daheim!«
Die Bäume gaben den Weg frei. Vor ihnen lag tiefe Dunkelheit, aber irgendetwas zog Daria an. Sie folgte einem unsichtbaren Pfad.
Das Heulen von Wölfen und das Krächzen der Raben jagten ihr kalte Schauer über den Rücken. Das Knacken eines abgebrochenen Zweiges trieb ihr Schweißperlen auf die Stirn. Sie zitterte. Sie hatte Angst.
»Ich muss tapfer sein«, murmelte sie leise vor sich hin. Sie vermisste Micha an ihrer Seite. Obwohl er der Jüngere war, war er immer bei ihr; aber diesmal nicht.
Ihre Gedanken kreisten um die seltsame Schamanin. Was führte sie im Schilde? Oder war alles nur ein böser Traum, aus dem sie bald erwachen würde?
Etwas glitzerte zwischen den Wurzeln und glänzte in den wenigen Sonnenstrahlen, die das dichte Blätterwerk durchdrangen. Daria bückte sich. Vor ihr lag ein daumengroßer Knochen. Angewidert stieß sie ihn weg.
»Du solltest ihn mitnehmen«, empfahl Riada. »Er wird dir noch nützlich sein.«
Mit spitzen Fingern hob Daria den Knochen auf und verstaute ihn in ihrer Tasche neben Riada.
Ein zarter Duft von frischem Tee durchzog den Wald. Genüsslich reckte Daria ihre Nase in die Höhe. Ihr Magen knurrte. Sie ging zurück und betrat die Hütte.
Der kleine Tisch war mit Tee, Milch und Gebäck gedeckt. Es duftete herrlich. Waya hatte an alles gedacht, auch an ihre Runen. Die Knochen lagen am Tischende. Als sich Daria setzte, erwachten sie aus ihrem Schlummer und rückten ungeduldig näher.
»Habt noch ein bisschen Geduld«, besänftigte die Schamanin ihre Helfer. »Lasst das arme Mädchen zuerst zu Kräften kommen!«
Daria fiel über den heißen Tee her. Er roch zwar wie Samanthas Tee, schmeckte aber viel süßer. Daria trank und trank und setzte erst nach dem letzten Schluck ab. Ihre Wangen wurden heiß, ihr Kopf brannte. Glühende Hitzewellen bohrten sich in ihre Eingeweide. Ein stechender Schmerz fuhr in ihren Bauch, sie krümmte sich und fiel auf den Boden. Ihre Lippen schwollen an.
Waya goss dem Mädchen nach. »Trink weiter!«, befahl sie eisig.
Plötzlich fegte Micha in die Hütte und sah seine Schwester mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden liegen. Zornig riss er ihr den Becher aus der Hand und schmetterte die Runen vom Tisch.
»Lass meine Schwester in Frieden, du alte Hexe!«, schrie er und stellte sich schützend vor Daria. Er hakte seine Arme unter Darias Achseln und zerrte sie Richtung Tür.
»Weg von ihr!«, keifte die Alte zornig und streckte ihren mageren Finger aus. Eine unsichtbare Platte schob sich zwischen die Geschwister und stieß Micha zur Seite. Er trat und hämmerte gegen den Widerstand, aber die Platte rührte sich nicht vom Fleck. Er war gefangen. Gefangen im Haus dieser Hexe!
Daria wurde ruhiger und erhob sich erschöpft. Sie nahm Wayas Runen.
Die Knochen befühlten die warmen Hände des Mädchens, sie betasteten jede Falte, jede Linie von Darias Handflächen, dann glitten sie lautlos zurück auf die Tischplatte.
Schwarze fremde Zeichen loderten auf. Die Zeichen lösten sich von den Runen und schwebten im Raum.Von seinem Käfig aus beobachtete Micha das Schauspiel. Daria strich mit ihren Fingern über die schwebenden Zeichen, ihre Augen waren dabei geschlossen.
»Sie ist soweit!«, dröhnte eine tiefe Stimme aus Darias Tasche. Der Knochen glitt heraus.
»Befindest du sie wirklich für würdig?«, krächzte Waya und legte den Knochen neben die anderen Runen. Eine bunte Spirale flackerte auf; die Farben des Regenbogens loderten auf Wayas Lettern.
Die Rune erhob sich und schwebte durch das unsichtbare Hindernis zu Micha. Sie befühlte seinen Kopf, seine Arme und sein Herz. Micha erschauderte, aber er bewegte sich nicht. Lautlos flog die Rune zurück.
»Und was ist mit dem Jungen?«, fragte Waya weiter.
Die Spirale flackerte erneut auf den Knochen auf, aber eine dünne schwarze Linie unterbrach die bunte Einheit.
»Er verdient eine Chance«, antwortete die Rune.
»Ich verstehe«, antwortete Waya und wandte sich dem Jungen zu.
»Bist du soweit? Bist du wirklich soweit?«, fragte Waya scharf. Micha nickte. Mit einem Handstrich wischte sie die unsichtbare Wand weg.
»Hat eure Mutter manchmal über einen magischen Stein gesprochen? Geschichten von einem magischen Land erzählt? Samantha hat euch wahrscheinlich nicht viel gesagt, ihr wart noch zu klein dafür. Aber nun ist die Zeit reif!«
»Du kennst Mum?«
Waya lächelte. »Das ist eine lange Geschichte, dafür haben wir im Moment keine Zeit. Aber ich verspreche euch, ihr werdet alles zum richtigen Zeitpunkt erfahren!
Vor einigen Jahren, als ihr noch klein wart, hat der Berg der Legenden Gesteinsmassen gespuckt - ähnlich wie vor Kurzem, als ihr eure Eltern verloren habt. Daria, in deiner Schulter ist ein kleiner magischer Stein eingebettet, der in Buntopias Mosaik fehlt. Und du, Micha, hast einen magischen Splitter in deinem Unterarm. Auch dieser Splitter fehlt in unserem Mosaik. Nur wenn der Stein und der Splitter durch euch an den rechten Platz kommen, wird die Einheit der Spiralen wieder entstehen. Diese Einheit ist wichtig für uns, wenn das Dunkle besiegt werden soll. In letzter Zeit haben böse Mächte immer stärker ihre Hand nach Buntopia ausgestreckt. Die dunkle Herrschaft ist im Vormarsch, und diese dunkle Macht hat auch eure Eltern entführt!«
»Ich verstehe gar nichts mehr. Was ist die Einheit der Spiralen, warum haben wir diesen Stein und was hat das alles mit uns zu tun? Wir sind ganz normale Jugendliche von der Erde und sonst nichts.«
»Nun, Daria, das ist nicht ganz richtig. Was wisst ihr über Magie?«
»Magie gibts nur im Märchen oder in Filmen!«
»Stimmt wieder nicht!«, lächelte Waya und streckte ihren Zeigefinger Richtung Holzdach.
Die Holzschindel bekamen Augen und Münder, die Gesichter grinsten und verschwanden.
»Das ist Magie. Das Böse hat starke magische Kräfte. Nur dadurch war es möglich, so weit vorzudringen.«
Nervös ruckelte Riada in ihrem Versteck und schwebte schließlich hervor. Eine Abbildung von Daria und Micha blitzte auf. Die Geschwister sahen Feuer, Wasser, Wind und Erde, sie lenkten, ja, sie spielten mit den Elementen.
»Haben wir auch Magie in uns?«, flüsterte Daria und schlug das Buch zu.
Waya rang nach einer Antwort. »Samantha hat euch nie etwas gesagt?«
»Manchmal hat Mum eigenartige Bemerkungen gemacht. Sie meinte, wir haben ein ganz besonderes Schicksal und sind zu Großem bestimmt. Wenn wir nachgefragt haben, hat sie die Fragen immer weggewischt. Nur manchmal kam der Nachsatz ›... wenn die Zeit reif ist und die Einigkeit der Spiralen wahr wird ...‹ .«
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