Wohltuende Stille umfing mich: kein Gequäke von rechts, kein Bassgewummer von links. Fast wie bei reichen Leuten! Ich verräumte meine Einkäufe, hängte die Blazer in den Schrank, pusselte einige Stäubchen weg und sah mich befriedigt um, bevor ich mir ein Käsebrot machte und mich an die Diss setzte. Die zwei Bücher, die ich zwischen Weinzierl und Flo aus der Bibliothek geholt hatte, erwiesen sich zwar als reichlich unergiebig, aber dafür kam mir eine andere geniale Idee, die ich sogar anhand der Quellen belegen konnte. Vergnügt tippte ich vor mich hin, las mir dann die drei neuen Seiten durch, besserte einiges aus, schlug die passenden Fußnoten nach und speicherte das Meisterwerk. Schon hundertfünfundsechzig Seiten, und gar nicht mal schlechte! Und Abgabetermin war erst am ersten Oktober! Und ich war schon bei der dritten Generation angekommen und damit praktisch fertig, schließlich ging es ja um die Greiffsche Verlagsbuchhandlung im achtzehnten Jahrhundert. Wilhelm Kasimir Greiff aber, der, der fast so viel Ärger mit Napoleon hatte wie der legendäre Palm in München (allerdings kostete es ihn nicht den Kopf), war erst 1854 gestorben. Nach 1814 war endgültig Schluss, legte ich fest. Die napoleonische Ära wollte ich nicht zerteilen, aber alles andere war wirklich neunzehntes Jahrhundert. Ich machte mir einen Vermerk, dass ich das im Methodenkapitel noch ansprechen sollte, und starrte dann nachdenklich auf den Bildschirm. Was jetzt noch?
Es klingelte.
Wer wollte mir denn jetzt schon wieder was verkaufen? Normalerweise kam dieses aufdringliche Pack doch erst nach Feierabend, um möglichst flächendeckend zu nerven! Oder betrieb Telefonterror. Missmutig starrte ich durch den Spion: Olaf? Das war ja auch noch nie vorgekommen!
Ich riss die Tür auf. „Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Ist euch endgültig das Essen ausgegangen? Aber ich sag dir gleich, ich denke nicht daran, Thilo was zu leihen, diesem miesen kleinen Erpresser!“
„Dann ist er also nicht bei dir?“
„Bei mir? Der war überhaupt noch nie hier drin, ich hätte ihn auch nicht reingelassen, der klaut doch bestimmt! Und diesen Pennermief brauche ich hier drin auch nicht! Lagert ihr eigentlich das Bier in der Badewanne, anstatt sie mal zu benutzen?“
„ Ich dusche täglich“, behauptete Olaf, leicht beleidigt. „Das hörst du bloß nicht, weil das Bad am anderen Ende der Wohnung ist. Thilo ist gestern Mittag weggegangen, ganz aufgeregt, er kommt jetzt ans große Geld. Wahrscheinlich wieder so ein Idiotenplan. Jedenfalls ist er seitdem nicht wieder aufgetaucht. Sogar Hubi hat schon gemerkt, dass einer fehlt -“
„- und das will was heißen“, vervollständigte ich automatisch. „Macht Thilo das öfter? Dass er sich so lange rumtreibt, meine ich.“
„Nein! Er ist eigentlich immer da, und wenn er mal abhaut, dann belästigt er entweder kurz seine Eltern, aber die haben selbst nicht viel, oder besorgt sich etwas Geld - frag mich nicht, wie. Er kommt immer schnell wieder zurück - jedenfalls, mehr als einen Tag wegbleiben, das ist schon seltsam...“
„Wir könnten Vermisstenanzeige erstatten“, schlug ich etwas unsicher vor. Ging das überhaupt, wenn man mit dem Vermissten gar nicht verwandt war?
„Jetzt schon? Muss man da nicht achtundvierzig Stunden warten?“ Olaf kannte sich auch nicht besser aus.
„Kann sein. Ach, komm, versuchen wir´s einfach!“
„Thilo wird sauer sein, wenn er davon erfährt!“, warnte Olaf noch.
„Na, das ist doch mal ein perfekter Grund, oder?“
Er musste grinsen. „Eigentlich hast du Recht. Ich hole meinen Mantel.“
Ich verzichtete darauf, ihm nachzurufen: „Und mach dein Hemd zu!“, und holte meine Tasche und meine Jacke. Als ich gerade zusperrte, kam er wieder und sah richtig menschlich aus, in einem ziemlich normalen Trenchcoat, unter dem man nur die Hosenbeine und – standing ovations! - richtige Schuhe sah, nicht die Hühnerbrust und nicht die Art, wie die Hosen immer über seine nicht vorhandenen Hüften zu rutschen drohten – aber vielleicht hatte man das ja jetzt? Jedenfalls musste ich nicht auf der anderen Straßenseite gehen oder beten, dass mich niemand mit ihm sah.
Seine öligen Haare sahen heute auch gar nicht so ölig aus, fast normal. Eigentlich ziemlich frisch gewaschen sogar, schwarzglänzend. Er sah zwar insgesamt immer noch aus wie Mafianachwuchs, aber wenigstens nicht mehr unappetitlich.
Das Polizeirevier war nur zwei Ecken weiter, in der Bonner Straße, und los war dort auch nichts. Hinter dem Tresen saß ein Beamter, in beigem Hemd und beiger Hose, trank Kaffee aus einem Simpsons-Becher und studierte ein Formular. „Ja?“, fragte er kundenorientiert, als wir ihn lange genug finster fixiert hatten.
„Wir möchten jemanden vermisst melden“, sagte Olaf entschlossen.
Der Beamte seufzte und klickte mit seiner Maus herum, so dass der FC Bayern-Bildschirmschoner verschwand. „Name?“
„Der des Vermissten?“, fragte ich. Weiber! signalisierte der Blick des Polizisten.
„Logisch. Also?“
„Thilo Benninger“, antwortete Olaf brav.
„Adresse?“
„Krefelder Straße 27, hier in Selling.“ Olaf fügte sogar noch die Postleitzahl hinzu, ganz der akkurate Staatsbürger. Ich hielt mich raus, mich hielt der Kerl ja doch für doof.
„Geboren?“
„14.3.1979.“
Tiefes Seufzen. „Was soll das denn? Ich denke, Sie melden Ihren verkalkten Opa oder ein Kind als abgängig! Das ist doch ein erwachsener Mann, der kann doch machen, was er will! Wie lange ist er denn schon weg?“
„Seit gestern Mittag“, gestand ich, weil es Olaf die Sprache verschlagen zu haben schien. „Ach, und da hat das kleine Frauchen wohl Angst, dass ihr der Ernährer durchgegangen ist?“ Das war zwar unverschämt, aber so weit von der Wahrheit weg, dass ich lachen musste.
„Der? Der ist ein widerlicher ungewaschener Kerl und kann sich kaum selbst ernähren! Ich bin bloß die Nachbarin. Aber Thilo ist sonst nie weg!“
„Geschäftsreise?“ Offenbar war das Formular noch langweiliger, so dass er noch keine Lust hatte, uns rauszuschmeißen.
„Er hat doch gar keinen Job. Wir wissen gar nicht, wovon er eigentlich lebt.“
Ein Funke Interesse glomm im trüben Beamtenauge auf. „Ach ja? Haben Sie denn den Verdacht auf eine Straftat?“ Olaf, der sich wieder erholt zu haben schien, verneinte. „Wenigstens hat ihn bestimmt keiner ausgeraubt, er hat ja nichts. Obwohl – gestern Mittag, als er weg ist, hat er gemeint, jetzt kommt er an das große Geld.“
„Das war doch garantiert wieder so ein Blödsinn!“, widersprach ich. „Weißt du noch, wo er von mir einen Hunderter erpressen wollte, das war doch auch so ein Quatsch.“
„Aber Schiss hast du schon gehabt!“
„Hättest du auch, bei einem ganz neuen Job!“, fauchte ich.
„Ich bin sicher, Sie können sich draußen viel bequemer streiten“, warf der Beamte ein. „Moment mal – wie war das mit dem erpressten Hunderter?“
„Er hat´s ja nicht geschafft. Oder besser nicht wirklich gemacht. Er hat nur gemeint, wenn ich ihm keinen Hunni leihe – also, schenke, er zahlt nie was zurück – dann taucht er bei meinem neuen Job auf und macht mich madig. Na, und da war ich nicht scharf drauf.“
„Und was haben Sie gemacht?“
„Ihn angeblafft. Und Olaf – naja, Olaf auch.“
„Ich hab ihm eine gescheuert“, gab Olaf zu.
Der Polizist griff zu einem Bleistift und kratzte sich sorgfältig den Kopf. „Wieso vermissen Sie diesen Benninger eigentlich? Scheint kein so großer Verlust zu sein, nach dem, was Sie so erzählen.“
„Ja, stimmt schon. Aber vielleicht ist ihm doch was passiert“, beharrte Olaf. „Also, er ist etwa einsfünfundachtzig groß, ziemlich dünn, rotblond und hat so ein bescheuertes Kinnbärtchen. Und er hatte Khakicargos an, Turnschuhe und ein rotweißes T-Shirt.“ Farbenblind auch noch, dachte ich. Und Olaf konnte mit diesen exakt ausrasierten Koteletten eigentlich ganz leise sein.
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