Bernd nickte, natürlich erinnerte er sich. Aber bezüglich Frau Albers waren ihm die Hände gebunden. Sie war nicht nur Lehrerin an seiner Schule, sondern auch stellvertretende Direktorin. Immer wieder betonte sie ihre herausgehobene Position und bildete sich etwas darauf ein.
Bei dem Gedanken an diese Frau wurde Eleonores Stimme lauter und ungehaltener.
„Es geht doch hier um die Schüler und nicht um einen anzustrebenden Durchschnitt oder um Frau Albers' veralteten pädagogischen Maßnahmen! Ebenso darf ich keine Kinder schlagen! Das haben wir doch auch in unserem neuen Konzept hinterlegt, du erinnerst dich? Hast du Klaus’ Hände gesehen?“
Bernd schüttelte den Kopf und Eleonore fuhr entrüstet fort:
„Die hat die Albers so zugerichtet, dass sie bluteten und Klaus drei Tage lang den Füller nicht richtig halten konnte. Mit der Kante seines eigenen Lineals hat sie zugeschlagen. Schrecklich!“
„Eleonore, ich stehe ja auf deiner Seite. Du musst nur mehr Geduld haben. Wir können uns hier nicht als sofortiger Weltverbesserer aufspielen. Langsam, Schritt für Schritt müssen wir für Veränderungen kämpfen.“
Mitleidig sah er sie an. Sie spürte sein Mitleid und das machte sie richtig wütend. Sie wollte kein Mitleid, sondern Verständnis und Solidarität.
„Stell dir vor, kürzlich bekomme ich mit, wie diese Frau zum Fritz aus meiner Klasse - du weißt schon, der Junge mit den schneeblonden Haaren - sagt, aus ihm werde sowieso nie etwas werden, weil sein Vater Kohleträger und seine Mutter Alkoholikerin sei. Er solle bloß nicht denken, dass aus ihm einmal etwas Ordentliches werde.“
Voller Entsetzen schaute Eleonore Bernd an. Er erwiderte ihren Blick und deutete durch ein leichtes Kopfnicken Verständnis an. Auch er fand die Art von Frau Albers nicht in Ordnung. Gerne würde er etwas gegen diese Lehrerin unternehmen, aber ihm waren die Hände gebunden. Er konnte seine Lehrer nicht nach Lust und Laune einstellen, entlassen oder ihnen neue Dinge vorschreiben. Ihm wurde alles vom zuständigen Kultusministerium vorgeschrieben. Auch ihr neues Konzept musste vom Kultusministerium abgesegnet werden, was zwar schon geschehen war, jetzt aber erst langsam umgesetzt werden musste. Nach den bisher geltenden Regeln verhielt sich Frau Albers nicht ordnungswidrig. Ihre abfällige Äußerung gegenüber Fritz war durchaus legal, ebenso gab es kein Gesetz, das den Lehrern verbot, Schülern Schläge anzudrohen oder sie körperlich zu züchtigen, um, wie man es pädagogisch ausdrückte, „das Denkvermögen zu erhöhen“. Bernd ging nun langsam auf Eleonore zu und setzte sich lässig vor sie auf das Lehrerpult. Instinktiv rutschte sie mit ihrem Stuhl etwas nach hinten. Er schaute sie mit seinen stahlblauen Augen begehrlich an.
„Ich beiße nicht“, gab er lächelnd von sich.
Längst wussten beide, dass sie sich gleichstark begehrten. Bernd fand Eleonore besonders unwiderstehlich, wenn sie sich kämpferisch zeigte. Und das war genau jetzt in dem Moment der Fall. Er provozierte sie zu gerne, um sie dann in ihrer Wut zu nehmen. Eleonore überlegte, was an ihr eigentlich so Begehrenswertes war, dass Bernd ihr ebenso wenig widerstehen konnte, wie sie ihm. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie schon immer bemerkt, dass ihre Erscheinung fast immer Aufmerksamkeit erregte, positive oder negative. Sie wurde oft als arrogant abgestempelt. Wenn dann noch ihr Kampfgeist an die Öffentlichkeit trat, verurteilten sie viele Mitmenschen als hochnäsig, unangepasst und rebellisch. Auch bezüglich ihrer Kleidung sonderte sie sich ab. Sie war nie vornehm gekleidet, da sie jeden Tag die weite Strecke von Elmschenhagen nach Gaarden laufen musste. Stöckelschuhe und Kleidchen waren da nicht gerade angesagt. Bei Regen erschien sie mit Gummistiefeln in der Schule, die sie dann den ganzen Schultag trug. Erst später konnte sie sich ein zweites Paar Schuhe leisten, welches sie nur in der Schule anzog. Trotz ihrer einfachen Kleidung spürte sie oft die männlichen Blicke auf sich gerichtet. Sie sah mit ihrer sehr weiblich schlanken Figur und ihren markanten, aber hübschen Gesichtszügen sehr gut aus und das wusste sie auch!
Wie von fremder Hand geführt, wurden beide an jenem Tag angezogen. Sie kannten das bereits und wussten, dass sie solche Begegnungen meiden mussten, wenn sie ihnen entkommen wollten. Sie hatten schon vor zwei Monaten beschlossen, sich nicht mehr außerhalb der Schulzeit zu treffen. An diesem Montag hielt Bernd es aber nicht mehr aus. Er konnte nicht ohne Eleonore sein. Er hatte gewartet, bis alle Kollegen und Schüler das Gebäude verlassen hatten. Und dann gab es für ihn kein Zurück mehr, er musste zu seiner, wie er sie oft mit Kosenamen nannte, Lori. Als er sie dann so einsam und kämpferisch dort sitzen sah, verlor er fast die Besinnung. Er ergriff mit beiden Händen ihr Gesicht, zog sie an sich heran und küsste sie. Zunächst sehr vorsichtig. Er hatte die Augen geschlossen und spürte, wie sie seinen Kuss erwiderte. Sie zitterte leicht, konnte sich nur schwer zurückhalten. Beide wurden von einer unbändigen Leidenschaft erfasst, die sie wie eine riesige Flutwelle widerstandslos mitriss. Eleonore versuchte, gegen diese Welle anzuschwimmen und sich einzureden, dass sie jetzt nicht weiter machen durfte. Jetzt musste Schluss sein! Aber ihr Körper gehorchte nicht mehr dem Kopf, es gab kein Zurück. Sie ergaben sich beide ihrem Schicksal und schwammen auf der Welle dahin. Bernd griff mit beiden Händen um ihre Taille und hob sie auf das Pult und umarmte sie mit festem Druck.
„Eleonore, ich liebe dich. Ich begehrte dich schon von dem ersten Moment, als ich dich sah. Du bist eine wundervolle Frau. Ich kann nicht anders...“, flüsterte er hingebungsvoll in ihr Ohr.
Eleonore war mittlerweile erstarrt und nicht mehr Frau ihrer Sinne. Sie konnte sich nicht wehren. So gerne sie es getan hätte, sie war wieder einmal willenlos gegenüber Bernd. Auch das Denken funktionierte nicht mehr. Verzweifelt versuchte sie Bernd etwas mitzuteilen:
„Bernd...!“
Bernd nahm seinen Zeigefinger und legte ihn zärtlich auf ihre Lippen.
„Verzeih' mir. Ich weiß, wir wollten uns so nicht mehr treffen, aber ich kann nicht. Bitte verzeih' mir. Ich brauche dich! Ich liebe dich so sehr, dass ich es nicht mehr ohne dich ertragen kann!“, hauchte Bernd ihr ins Ohr.
Er streichelte ihren Busen und hob mit der anderen Hand ihren Rock hoch. Eleonore spürte in sich eine unglaubliche Wärme aufkommen. Sie zitterte bereits am ganzen Körper und konnte ihre Gliedmaßen nicht mehr kontrollieren. Sie vergaß sich und verlor sich dann in einer Welt, die nur aus Gefühlen bestand. Das Jetzt und Hier war verschwunden. Sie wusste nicht mehr, wo und wer sie war. Eine unglaublich große Glückswelle überrollte sie. Vor Ort, im Klassenzimmer liebten sich beide wieder einmal so leidenschaftlich, wie es nicht noch einmal hätte passiert sollen. Beide erlebten den Höhepunkt ihrer Liebe gleichzeitig. Anschließend umklammerten sie sich, als hätten sie Angst, einer von ihnen würde unerwarteter Weise verschwinden und der Traum ein jähes Ende finden.
„Hallo, - Bernd, bist du noch da?“, hörten plötzlich beide eine Stimme rufen. Erschrocken zuckten sie zusammen und ließen sich sofort los. Bernd sprang auf, stopfte das Hemd in die Hose während er diese hastig hochzog. Dabei vergaß er den Reißverschluss seiner Hose zu schließen. Eleonore sprang vom Pult auf, hatte gerade ihren Pullover und Rock zurechtgerückt und sich auf ihren Stuhl gesetzt, als sie Bernds Frau rufen hörten:
„Bernd, bist du hier?“
Sie war bereits die Treppen hinaufgegangen und musste jeden Moment in der Tür erscheinen. Eleonore hatte hastig ihren Füller in die Hand genommen, dass es so aussah, als korrigierte sie die Arbeiten, die sie schnell vor sich auf dem Schreibtisch zurechtgerückt hatte. Geistesgegenwärtig drehte Bernd sich stehend Eleonore zu, so dass er von der Tür nur von hinten zu sehen war. Während er Eleonore anschaute, begann er laut zu reden:
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