„Ich führe mein Leben und ihr führt das eurige. Gerne komme ich euch einmal am Wochenende besuchen, aber ich habe keine Zeit mehr, um eure Aufgaben mit zu übernehmen. Es tut mir Leid!“
Sie hörte ihre Mutter mit sich ringen:
„Ich verstehe dich nicht mehr. Du hast dich in der letzten Zeit so verändert. Vati ist jetzt … arbeitet immer ... da ist, dann trinkt er viel, was ...“
Es raschelte jetzt unentwegt in der Leitung und Eleonore verstand nur noch Bruchstücke, wie:
„Oh, der Empfang … so schlecht. Ich wollte … für dich... Du erinnerst dich? … besprechen... vorbeikommen ...“
Sie wollte das Gespräch sowieso zu Ende bringen und sagte:
„Mutti, ich verstehe dich nicht. Irgendwie ist die Leitung so schlecht. Kannst du mich besser hören als ich dich?“
„Was hast du ….“, kam die Antwort. Dann erstreckte sich das Telefonat in einem Dauerrauschen.
Eleonore legte auf. Es war Sonntag und sie überlegte kurz, ob sie ihre Eltern in Kiel-Gaarden spontan besuchen sollte. Eigentlich wollte sie die aufgebaute Distanz zu ihren Eltern eher ausbauen als wieder abbauen und endlich ohne Vormund leben. Ihre Eltern hatten ihr ein Leben lang vorgeschrieben, was sie wann, wo, wie, wozu und weshalb zu tun habe. Nun wollte sie endlich zur Ruhe kommen, um ihr Leben selbst zu gestalten. Und das war ihr gerade recht gut geglückt. Leider schien es aber doch nicht so einfach, sich von ihnen abzunabeln. Ihre Eltern hatten ihr tatsächlich jahrelang eine Ausbildung als Lehrerin finanziert. Sie fühlte sich weiterhin zu Dank verpflichtet. Ihre Eltern forderten ihn auch permanent ein. Wie um alles in der Welt kam man aus dieser Zwickmühle heraus?
Für Eleonores Situation kam erschwerend hinzu, dass ihre Eltern der ein Jahr jüngeren Schwester Elfrida eine solche Ausbildung nicht ermöglichen konnten und wollten, obwohl diese liebend gerne den gleichen Weg eingeschlagen hätte. Elfrida hatte damals förmlich um Unterstützung gebettelt, aber ihre Eltern ließen sich nicht erweichen, da das Geld zu knapp war. Somit musste Elfrida nach dem Abschluss der Volksschule in einem privaten Kieler Haushalt als Haushälterin und Kindermädchen hart arbeiten, während Eleonore nach der Flucht die Ausbildung als Lehrerin in Kiel und Ahrensbök zu Ende bringen konnte.
Trotz der Umstände wollte Eleonore endlich das Gefühl der Dankesschuld gegenüber ihren Eltern ablegen. Sie wollte sich nicht weiter vorhalten lassen, zum Dank verpflichtet zu sein und deshalb das tun zu müssen, was ihre Eltern ihr vorschrieben. Eleonore ahnte, dass es erst möglich wäre, sich von den Eltern gefühlsmäßig zu trennen, wenn sie den Kontakt auf das Minimum reduzierte. Aber irgendwie konnte sie dann doch nicht so kaltherzig sein.
Das Schlimmste an der Situation war allerdings, dass sie noch Anna , ihre kleine fünfjährige Schwester hatte, die bei den Eltern lebte. Sie war sehr niedlich, hatte langes, glattes blondes Haar, das ihr die Mutter immer zu Zöpfen flocht. Ihr Gesicht war so süß mit der hohen Stirn und der entzückenden Stupsnase. Die blauen Augen strahlten viel Lebenslust aus und ihre vollen roten Lippen vollendeten das Bild des bezaubernden Mädchens. Vom Körperbau war Anna sehr zart und dünn. Eleonore liebte ihre kleine Schwester über alles und war sehr traurig, dass sie sie nach ihrem Umzug nach Wittenberg nicht mehr so oft sehen konnte. Auch Anna hing sehr an ihrer großen Schwester Eleonore und weinte erbärmlich, als Eleonore ihr erzählte, dass sie nun nach Wittenberg ginge.
Eleonore verließ das Lehrerzimmer und ging die steile Holztreppe zu ihrer Wohnung wieder hinauf. Rusty folgte ihr. Die Lust auf Arbeit war Eleonore vergangen. Sie setzte sich in ihren Sessel im Wohnzimmer, was für ein Luxus, nun ein Wohnzimmer zu besitzen, und dachte nach. Warum schaffte man mit fast dreißig Jahren nicht, sich von den Eltern zu lösen? Würde man sich ihnen gegenüber immer verpflichtet fühlen müssen?
Vor einiger Zeit hatte Eleonore diese Umklammerung ihrer Mutter nicht mehr ertragen, war über Nacht von zu Hause „ausgebrochen“ und ihren eigenen unabhängigen Weg gegangen. Ihre Eltern sah sie in der Zeit sehr selten. Den spärlichen Kontakt zu ihnen und vor allem zu ihrer geliebten kleinen Schwester Anna hielt Eleonore aber nach mehreren Monaten nicht mehr aus und hatte ihn vorsichtig wieder aufgebaut.
Eleonore ließ ihren Kopf nach hinten in die Nackenstütze des Sessels fallen, schloss die Augen und ließ die Erinnerungen aus ihrer Zeit zwischen der Flucht und vor Wittenberg an sich vorbeiziehen. Das hatte sie bisher kaum gewagt. Aber irgendwann musste man sich ja der Vergangenheit stellen, man durfte sie nicht einfach ausblenden. Das wurde ihr in diesem Moment bewusst. Man konnte sich nicht immer im Griff haben. Sie ließ ihren Gedanken jetzt freien Lauf und erinnerte sich.
In der Zeit als Eleonore die Beziehung zu den Eltern völlig lahmlegte, arbeitete sie zunächst an unterschiedlichen Schulen, um Berufserfahrung zu sammeln. Dann erhielt sie bedingt durch den Lehrermangel eine Festanstellung als Lehrerin an der Realschule in Kiel-Gaarden. Während dieser Zeit baute sie das Verhältnis zur Mutter und zum Vater wieder allmählich auf, allein schon dadurch bedingt, dass ihre Eltern ganz in der Nähe der Realschule wohnten, aber besonders wegen des guten Verhältnisses zur kleinen Schwester Anna. Eleonore begann, ihre Eltern und Anna wieder regelmäßiger zu besuchen. Sie selbst hatte damals ein Zimmer in Kiel-Elmschenhagen gemietet und legte täglich den Weg zur Schule zu Fuß zurück. Das waren manchmal sehr lange und beschwerliche Fußmärsche, besonders im verschneiten Winter. Oft erschien sie mit Gummistiefeln und Regenjacke völlig durchnässt und durchgefroren im Klassenraum.
Eleonore tauchte weiter in ihre Vergangenheit ein. Sie befand sich auf einer unaufhaltsamen Zeitreise. Angst überkam sie.
Ein Tag veränderte ihr Leben als Lehrerin in Gaarden damals abrupt. Sie befand sich an ihrem Arbeitsplatz, einem Klassenzimmer der Gaardener Realschule. Dort saß sie, wie so oft nach Schulschluss nachdenklich an ihrem Lehrerpult in der leeren Klasse. Sie stützte ihre spitzen Ellenbogen auf die Tischplatte und legte ihren Kopf in ihre Hände. Die langen, gewellten dunkelblonden Haare fielen nach vorne und verdeckten ihr Gesicht. Ihrem Mund entfloh ein tiefer Seufzer. Im Flur hallten noch die letzten lauten Kinderstimmen nach. Aufgeregt unterhielten sich die Schüler über ihre gerade abgeschlossene Klassenarbeit. Eleonore hörte ein Kind sagen:
„Das war gar nicht so eine schwere Arbeit. Frau Müller ist wirklich eine großartige Lehrerin. Sie kann uns alles so gut beibringen.“
Ein zweites Kind antwortete darauf:
„Ja, das finde ich auch. Und ihre kleine Schwester ist so niedlich. Ich habe sie neulich mit ihr gesehen. Aber meine Mutter sagt, dass sie etwas ...“
Den Rest des Satzes konnte Eleonore nicht mehr hören, denn nun verklangen die Stimmen in der Ferne. Sie hörte, wie sich die Schultür schloss und dann wurde es ganz still. Wie sehr liebte sie diese Stille. Hier konnte ihr niemand etwas antun. Keine gehässigten Worte über ihr Äußeres, über ihr Wesen und über ihr Privatleben. Jeden Tag sehnte sie sich nach dieser Stille und menschenleeren Zeit. Sie stand auf und schaute aus dem Fenster. Einige Schüler waren noch auf dem Schulhof und diskutierten. Der Fahrradständer war leer, bis auf ein Fahrrad, es war das Fahrrad des Direktors, Bernd Reller. Sie wusste, dass er noch in der Schule war. Einerseits freute sie das, auf der anderen Seite wünschte sie ihn weit weg. Langsam ging sie zu ihrem Lehrerpult zurück, setzte sich auf ihren Stuhl und dachte nach.
Vor einigen Monaten hatte Eleonore mit Bernd Reller und einem weiteren Kollegen, Lars Gronau, über ein neues moderneres Schulkonzept nachgedacht. Alle drei waren diesbezüglich sehr engagiert gewesen und hatten letztendlich ein großartig ausgereiftes Konzept entworfen, welches behutsam realisiert werden sollte. Es basierte vor allem auf mehr Toleranz gegenüber den Schülern und dem Abbau des bisherigen Frontalunterrichts. Allerdings fand es bei diversen Kollegen und Eltern nicht allzu großen Anklang. Eleonore ließ sich dadurch nicht entmutigen, sie setzte die neuen Prinzipien auch gegen Widerstand rigoros durch.
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