Das frühe Zubettgehen von Anna kam Eleonore sehr entgegen, denn, obwohl sie sich viel um Anna kümmerte, mit ihr spielte, spazieren ging, kochte, Bücher vorlas oder bastelte, konnte sie sich nachmittags oft in aller Ruhe auf den Unterricht vorbereiten. Auch kam sie abends gut mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit voran. Nie hätte sie zuvor gedacht, dass das Leben mit einem kleinen Kind so stressfrei ablaufen konnte und das, obwohl sie berufstätig war.
Ihre Hausarbeit über die Regenwürmer nahm Gestalt an und je mehr sie schrieb, desto größer wurde ihre Begeisterung für das Thema. Ehe sie ihre Versuche und Texte endgültig mit der Schreibmaschine auf das Papier brachte, mussten sie sie hundertprozentig überzeugt haben. Wollte sie dann noch eine Änderung vornehmen, war das fast unmöglich, denn sie hätte die ganze Seite neu abschreiben müssen, zum Teil auch vorherige Seiten, da es sonst nicht mit den Seitenumbrüchen hinkam. Bisher war ihr das aber nur ein einziges Mal passiert, als sie zu wenig Platz für eine Zeichnung gelassen hatte und dann fünf Seiten neu tippen musste. Wieder einmal hatte sie gerade eine ihrer vielen Untersuchungsreihen abgeschlossen und übertrug ihren Text mit der Schreibmaschine ins Reine:
Als weiteres Problem beschäftigte mich, ob der Regenwurm auch auf Farbeindrücke reagiere. Zu diesem Zweck ließ ich ihn über einen in den Farben Schwarz, Rot und Weiß karierten Zeichenbogen kriechen, konnte aber keine besondere Reaktion feststellen. Allerdings ist der Wurm für Schallwellen empfänglich, denn er lässt sich durch schallendes Klopfen auf dem Boden aus der Erde locken.
Trotz der großen Anzahl von Feinden sterben die Regenwürmer nicht aus. Hier muss ich darauf hinweisen, wie die Natur auch in ihren kleinsten Teilen für einen gerechten Ausgleich sorgt. Neben der Vermehrung der Regenwürmer denke ich auch an ihre Regenerationsfähigkeit, durch die in verstärkten Maße Leben erhalten bleibt. Bei höheren Tieren und auch beim Menschen beschränkt sich die Regenerationsfähigkeit nur auf die Heilung verletzter Gewebe. Beim Regenwurm ist das nicht der Fall.
Ich trennte ein Tier in zwei Teile und beobachtete das Verhalten der beiden Enden. Das vordere Stück kroch sofort in die Erde und lebte dort weiter. Nach vierzehn Tagen war von der alten Wunde nichts mehr zu sehen. Es hatte sich ein neues Afterglied gebildet. Ganz anders verhielt sich das hintere Ende. Nach dem Schnitt führte es rückwärts und vorwärts noch einige Kriechbewegungen aus und blieb schließlich auf der Erdoberfläche liegen.
Vor kurzem hatte Eleonore ihren Selbstergänzungstest verfeinert und auch schon so ausgiebig getestet, dass sie ihn endgültig zu Papier bringen konnte:
Ein Wurm, den ich nur verletzte, hatte sich nach 5 Tagen völlig durchgetrennt. (Beim Ausführen dieser Versuche bedeckt man die Tiere am besten selbst mit feuchter Erde, um sie vor dem Vertrocknen zu schützen.)
Nachdem ich die zusätzliche und ungewöhnliche Gabe des Regenwurms, sich am Leben zu erhalten - nämlich die Regenerationfähigkeit - erläutert habe, möchte ich mich jetzt dem natürlichen, allgemeinen Mittel der Arterhaltung, der Fortpflanzung, zuwenden. Die Regenwürmer sind männlich und weiblich zugleich (hermaphrodit).
Nachdem sich Eleonore auf den biologischen Aspekt des Regenwurmes in ihrer Arbeit spezialisiert hatte, musste sie sich nun wieder dringend dem Hauptthema ihrer Arbeit, nämlich der Lehrertätigkeit an der Volksschule bezüglich des Regenwurmes zuwenden. Um in diesem Thema gedanklich weiter zu kommen und vor allem auch zu überzeugen, musste sie zunächst eine Schaffenspause einlegen.
Sie legte die Arbeit die nächsten Tage weg und widmete sich voll dem Unterricht mit ihren Schülern. Das tat richtig gut, denn nun konzentrierte sie sich nur auf ihre Stellung als Dorflehrerin und konnte sich intensiv mit dem Lehrstoff und ihren Schülern befassen.
Da sie neun Jahrgänge gleichzeitig unterrichtete, gab es jeden Tag viel vorzubereiten. Jeder Schüler musste einzeln betreut werden. Sie hatte bereits ein ausgeklügeltes System entwickelt, sich gerecht um den einzelnen Schüler zu kümmern. Zum großen Teil basierte ihr Unterrichtssystem darauf, dass die guten Schüler den Schwachen halfen.
An den Nachmittagen, wenn Anna spielen ging, bereitete sich Eleonore meistens auf den Unterricht vor, manchmal nahm sie sich aber auch frei und unternahm dann gerne mit Anna und dem Hund ausgiebige „Forschergänge“, wie Anna es nannte. Anna freute sich auf diese Ausflüge, spielte aber ebenso gern mit den vielen Freunden, die sie mittlerweile hatte. Sie nabelte sich mit den Monaten immer mehr ab. Das freute Eleonore, denn ihr Hauptziel war es, Anna zu einem selbstbewussten, eigenständigen, hilfsbereiten und klugen Menschen, der auch nein sagen konnte, aufwachsen zu lassen. Anna war auf dem besten Weg dorthin.
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