Wieder hatte Eleonore Platz für eine Zeichnung gelassen. Sie wollte alle Zeichnungen erst zum Schluss einkleben. Zum Teil hatte sie die Bilder bereits fertig, aber nicht alle gefielen ihr. Sie wollte später mehrere Bilder noch einmal anders anfertigen. Nun las sie zum Thema „Die Atmung des Regenwurms“:
Zum Atmen benötigt der Wurm weder Nasenöffnungen noch Lungen. Als Atmungsorgan dient ihm die gesamte Körperoberfläche. Sein Bedarf an Sauerstoff ist wahrscheinlich sehr gering. In der Absicht, ein Tier zu ersticken, brachte ich es unter Wasser, hatte aber nach 10 Minuten noch nicht mein Ziel erreicht. Nach wie vor pulsierte das Blut im Körper des Tieres, wobei es schließlich eine verhältnismäßig dunkelrote Färbung annahm. Das deute ich als Zeichen des Sauerstoffmangels. Ein zweiter Versuch ergab, dass der Wurm erstickt, wenn er sich noch längere Zeit im Wasser befindet. Dadurch erklärt sich auch, dass die Regenwürmer bei Regengüssen an die Erdoberfläche kommen müssen. Im anderen Fall würden sie in ihrem mit Wasser gefüllten Wohnröhren sterben. (Daher der Name REGENWURM.)
Eleonore war schon ein bisschen stolz auf ihre bisherige Arbeit. So oft sie ihren eigenen Text auch las, sie fand ihn jedes Mal erneut interessant. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass sie viele Erkenntnisse aus eigener Erfahrung gesammelt hatte, so auch die nachfolgend geschilderte Beobachtung:
Füllt man ein Glasgefäß mit Erde und legt auf diese einige Regenwürmer, so sieht man, dass sie sofort danach streben, sich zu verkriechen. Dabei bohren sie sich zuerst mit dem spitzen Kopfende in den Boden hinein. Können sie nun die Erde nicht mit dem Kopf auseinander treiben, weil diese vielleicht zu hart ist, fressen sie sich hindurch, d.h. sie verschlucken die Erdkörnchen. In einem flachen, mit Erde gefüllten Gefäß sitzt der Wurm immer direkt auf dem Boden. Schüttet man dagegen unter die Erde zunächst noch eine Schicht Sand (etwas 4-5 cm), hält sich der Wurm in den ersten Tagen nur dort auf, wo sich die schwarze Erde mit der hellen Sandschicht berührt. Erst allmählich beginnt er, Röhren auch durch den Sand zu ziehen, die er langsam immer weiter vertreibt.
Ihre Begeisterung fand kein Ende, sie überflog ein paar Zeilen und las:
Ich legte auf die Erde im Glas einzelne Grashalme und Blätter und stellte fest, dass sie sämtlich in den Boden gezogen wurden. Bemerkenswert hierbei war, dass der Wurm bei der Nahrungssuche eine Auswahl trifft und vermoderte Stoffe (z.B. faule Apfelstücke) den grünen (z.B. frische Blätter) vorzieht. Dagegen ist es mir nicht gelungen, nachzuweisen, ob er lieber tierische als pflanzliche Stoffe frisst.
Es zeigt sich ferner, dass der Ringmuskelschlauch dem Tier die Kraft verleiht, auch größere Gegenstände (Hühnerfeder, Strohhalme, Zweiglein, ganze Bleistifte) langsam herunterzuziehen. Ich pflanzte in ein Glas zarte Pflanzlinge (Vierschrötig, Moos, Gras) und wartete, bis sie angewachsen waren und frisch aussahen. Dann brachte ich eine Anzahl Würmer, die ich sieben Tage hatte hungern lassen, hinein und bemerkte zu meinem Erstaunen, dass sie den Pflanzen keinen Schaden zufügten.
Durch Versuche stellte ich fest, dass der Regenwurm allgemein auf chemische Reize reagiert. Da nun lebende Pflanzenwurzeln auch ein chemisches Produkt, nämlich Humussäure absondern, rührt er sie nicht an. Damit ist der Grund seines Unterscheidungsvermögens für lebende und tote Organismen gefunden.
Eleonore wollte heute Dr. J. Hamachers Behauptung, dass über der ganzen Haut des Regenwurmes lichtempfindliche Zellen verteilt sind, auf den Grund gehen. Nebenbei interessierte es sie, ob ein Regenwurm weiter leben würde, wenn man ihn in zwei Hälften teilte. Sie freute sich schon auf die entsprechenden Experimente. Da allgemein im Volksmund gesagt wurde, man könne den Regenwurm ruhig durchtrennen, es lebten trotzdem beide Hälften weiter, hielt sich ihr schlechtes Gewissen bezüglich Tierversuche mit Regenwürmern in Grenzen, obwohl sie schon ahnte, dass der Wurm nicht überleben würden. Sie war sich aber nicht sicher und sehr gespannt, wie sich beide Hälften entwickeln würden.
„Mama!“, hörte Eleonore plötzlich eine Kinderstimme rufen. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass es Anna war, die gerufen hatte. Schnell ging sie aus ihrem Lehrerzimmer und rief in das Treppenhaus:
„Warte Anna, ich komme sofort. Keine Angst, ich bin schon bei dir.“
Hastig eilte sie die Treppe hinauf und sah oben in der Wohnungstür die kleine verunsicherte Anna stehen. Sie war ganz blass und schaute verwirrt um sich. Eleonore nahm sie auf den Arm und sagte beruhigend:
„Mama ist nicht da, aber ich bin ja jetzt für dich da!“
„Darf ich Mama zu dir sagen? Du bist doch jetzt meine Mama, oder nicht?“, fragte Anna zaghaft.
„Ich bin jetzt schon so etwas wie eine Mama für dich, aber besser ist es, wenn du Lori zu mir sagst. Du bist ja meine Schwester und nicht mein Kind. Die Leute reden sonst komisch und denken, du seist mein Kind, weißt du?“
Anna schaute Eleonore verschlafen an, schloss die Augen und legte den Kopf auf ihre Schultern und murmelte:
„Auch egal. Für mich bist du die beste Schwestermama der Welt. Im Inneren werde ich dich immer Mama nennen.“
Eleonore brachte Anna zurück in ihr Bett und legte sich neben sie. Nun kuschelten beide noch lange ehe sie endgültig aufstanden. Beim Kuscheln empfanden beide eine angenehme Wärme und Zufriedenheit. Ein eigenes Kind wäre eigentlich eine schöne Sache, dachte Eleonore, und das Ganze noch ohne Mann, wäre auch nicht schlecht. Sie war zum ersten Mal erstaunt über solche Gedanken, denn bisher hatte sie gedacht, eine glückliche Familie bestand aus Frau und Kind und dem Ehemann.
Die folgenden Wochen lebten Anna und Eleonore sehr zufrieden in herrlicher Zweisamkeit. Die Treffen mit Lutz wurden schwieriger, aber sie trafen sich meist an den Wochenenden, wenn Anna ihre Eltern besuchte, was jedes zweite Wochenende passierte. Nach einigen Monaten zogen die Eltern in eine größere Wohnung. Sie blieben im Ort Elmschenhagen, aber in ihrer neuen Gegend gab es keine Pöbeleien mehr von irgendwelchen bösen Menschen, die gegen Flüchtlinge waren. Dort hätte Anna drinnen und draußen spielen können, wie es ihr gerade behagte. Keiner würde sie mehr vom Grundstück verscheuchen. Sie hätte mittlerweile aufgrund der geänderten Wohnlage ihrer Eltern wieder zu ihnen ziehen können, aber weder die Eltern noch Anna wollten dies. Somit beschloss man, dass alles beim Alten blieb. Anna war bei ihrer Schwester sehr glücklich und sollte es auch bleiben. Und wieder wunderte sich Eleonore, wieso ihre Eltern kein Verlangen zeigten, Anna zu sich zu holen. Auf der anderen Seite hatte sie sich so an das Schwesterchen gewöhnt, dass ihr eine Trennung sehr schwer fallen würde.
In Wittenberg integrierte Anna sich problemlos in die Dorfgemeinschaft. Ostern sollte sie offiziell in die erste Klasse kommen, nahm aber jetzt schon immer am Unterricht mit größtem Interesse teil und konnte ihm gut folgen. Sie hatte ausgesprochen großen Spaß an der Schule.
Unfassbar war für Eleonore Annas Appetit, ständig konnte sie essen. Besonders groß war ihr Hunger, wenn sie nach vielen Stunden des Spielens mit Freunden auf den Wiesen, Feldern und Wäldern abends ausgeglichen und glücklich heim kam. Nachts schliefen beide in Eleonores Bett. Sie genossen es, abends und morgens im Bett zu kuscheln und nicht alleine zu sein.
Manchmal kam Anna nachmittags zu Eleonore ins Lehrerzimmer, schaute ihr bei ihren Regenwurmversuchen zu und löcherte sie mit Fragen. Abends ging sie gerne früh ins Bett, um zunächst noch mit ihrer großen Schwester zu kuscheln und anschließend schön lange in ihren Büchern zu lesen. Obwohl sie ja noch nicht schulpflichtig war, konnte sie bereits gut lesen, sie hatte es von Eleonore gelernt. Beim Lesen im Bett liebte sie den Klang der Schreibmaschine, der regelmäßig vom Lehrerzimmer durch die Wände bis ins Bett zu hören war.
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