„Er ist so nett und fährt uns umsonst. Nett, oder?“
„Ja, das ist wirklich sehr nett. Wohnt er denn noch bei seinen Eltern?“
„Nein, warum?“
„Naja, weil er uns doch jetzt nach Wittenberg fährt und dort ja seine Eltern wohnen.“
Na, da hatte Eleonore sich ja auf ein schönes Abenteuer eingelassen. Sie lenkte ab, indem sie Anna aufforderte:
„Geh noch kurz zu Mutti und Vati, damit du dich von ihnen verabschieden kannst.“
Anna umarmte ihre Eltern, die tatenlos im Flur herumstanden, herzlich und verabschiedete sich von ihnen. Sie durften nicht mit auf den Hof kommen, denn auch die Erwachsenen Flüchtlinge duldete man dort nicht. Eleonore nahm Anna an die Hand und ging mit ihr in den Hof. Anna blieb vor Lutz stehen und schaute ihn ausgiebig an.
„Na, wen haben wir denn da?“, fragte er noch kurzem Warten mit einem einladenden Lächeln.
„Ich bin Anna“, gab sie mit ihrem schönsten Lächeln zurück.
„Ah, und du willst nun bei uns mitfahren?“
„Ja“, antwortete sie recht selbstbewusst.
Lutz eilte um sein Auto herum und öffnete Anna die Wagentür. Er verbeugte sich und zeigte ihr mit ausgestrecktem Arm an, wo sie sitzen sollte. Anna hüpfte ins Auto auf den Rücksitz neben Rusty. Rusty kam immer mit. Egal, wo Eleonore hinging, Rusty war dabei. Selbst im Unterricht lag er immer neben ihr. In den Pausen rannte er vergnügt mit den Kindern auf dem Schulhof hin und her. Jetzt begrüßte er Anna freudig schwanzwedelnd und leckte ihr einmal herzhaft über das Gesicht. Während Anna sich darüber sehr amüsierte und Eleonore und Lutz ebenfalls lachten, hörten sie von hinten eine dunkle böse Männerstimme:
„So ist's gut. Endlich verschwindet das Gesinde! Diese Mistgören gehören hier nicht hin. Am besten, ihr nehmt noch die Eltern mit. Genau wie all die anderen. Geht doch alle zurück nach Polen! Ihr Mistpolacken! Aber nein, stattdessen machen sich alle auf meinem Hof breit. Widerlich! Und nicht nur bei mir! Nein, überall in Schleswig-Holstein sind sie jetzt, diese Polacken. Verschwindet bloß! Euretwegen müssen wir hungern. Ihr fresst uns alles weg und nun haben wir nichts mehr. Verschwindet!“
Es war der Bauer, der fluchend auf sie zu kam. Er war sehr kräftig gebaut und mit seinem ärgerlichen Gesichtsausdruck sah er ziemlich bedrohlich aus. In den Händen hielt er eine Forke. Kurz vor dem Wagen blieb er stehen. Eleonore packte die eiskalte Wut. Sie drehte sich zu dem Wüterich um, ging langsam auf ihn zu und sagte mit einer sehr eindringlichen und jedes einzelne Wort betonenden Stimme:
„Sie können mir keine Angst machen. Jemand, der so primitiv ist wie sie, hat nicht genug im Kopf, um einem anderen zu drohen. Und jetzt hören Sie mir einmal gut zu!“
Sie zeigte auf die Wohnung ihrer Eltern, trat ganz dicht an den Bauern heran und erklärte mit verachtender Stimme:
„Wahrscheinlich hat es wenig Sinn, Ihnen jetzt zu erklären, was meinen Eltern im Krieg widerfahren ist, weil Sie so viele Informationen mit ihrem begrenzten Verstand gar nicht verarbeiten können, aber ich versuche es trotzdem: Meine Eltern sind zweimal in ihrem Leben vertrieben worden. Zweimal haben sie ihre Heimat verloren und dazu ihr ganzes Hab und Gut. Wir sind alle gebürtige Kieler und unsere Familie lebte schon länger in Schleswig-Holstein, als sie überhaupt denken können. Für wen halten Sie sich? Für einen König oder Kaiser, der bestimmen kann, wer hier leben darf oder nicht? Haben Sie nie versucht, sich in die Lage der Flüchtlinge hineinzuversetzen? Nein, dass können sie gar nicht! Sie schauen dem Elend lieber zu! Noch schlimmer, Sie bereichern sich am Elend der Armen! Ach!...“ Eleonore machte eine abwertende Handbewegung und sagte: „Sie sind wahrscheinlich zu dumm, um das zu verstehen.“
Sie drehte sich um und stieg wütend ins Auto. Der Bauer hob drohend seine Forke. Lutz hatte sich zuvor neben Eleonore gestellt, zeigte dem Bauern jetzt seine geballte Faust und drohte:
„Mir können sie keine Angst mit ihrer lächerlichen Forke machen. Wehe, sie beleidigen diese Familie noch einmal! Dann werden sie etwas erleben.“
Er stieg, ohne den Bauern noch eines Blickes zu würdigen, ebenfalls ins Auto, wendete und startete dann mit quietschenden Reifen. Sein Auto spritzte Schnee und Dreck in die Höhe und dem Bauern direkt ins Gesicht. Das Ganze passierte so schnell, dass dieser gar nicht reagieren konnte. Er spuckte wütend aus und schrie ihnen mit erhobener Forke hinterher:
„Scheiß polnisches Gesinde.“
Anna, Eleonore und Lutz sahen durch die Heckscheibe den Tobenden mit der Forke fuchteln und mussten solange fürchterlich lachen, bis sie ihn schließlich aus den Augen verloren. Dann beruhigten sich alle. Lutz wurde ernst und sagte:
„Wir müssen unbedingt für deine Eltern eine andere Wohnung finden. Dort können sie nicht bleiben, das ist viel, viel zu menschenverachtend!“
Trotz der vorausgegangenen Lachattacke zitterte Eleonore nun vor Aufregung. Der Bauer hatte mit der Forke ausgesprochen gefährlich gewirkt. Lutz streichelte ihre Hand und versuchte sie zu beruhigen:
„Mein Onkel ist in Kiel beim Einwohnermeldeamt tätig. Vielleicht kann er etwas tun.“
Er startete ein Ablenkungsmanöver, indem er sagte:
„Vergiss den Vorfall. Der dumme Bauer weiß nicht, was er redet. Ich fand deinen Auftritt fantastisch! Erzähl mir lieber, wie es eben bei deinen Eltern war. Wie haben sie den Abschied verkraftet?“
Eleonore versuchte sich zu beruhigen und beschrieb den Abschied:
„Ach, es war ganz kurz und schmerzlos. Sie waren auch nicht so unglücklich darüber, dass Anna jetzt zu mir zieht.“
Sie sah nach hinten zu ihrer Schwester und lächelte ihr zu.
„Ja“, antwortete Lutz. „Gott sei Dank. Ich finde es übrigens ganz toll, dass du deine Schwester zu dir holst. Das ist eine große Verantwortung, die du jetzt trägst. Alle Achtung!“
Nun drehte er sich kurz zu Anna um und sagte:
„Wusstest du schon, dass du die beste Schwester der Welt hast?“
„Ja, natürlich weiß ich das“, antwortete sie entrüstet und fügte hinzu: „Ich bin ja nicht dumm!“
„Wenn deine Schwester einmal keine Lust mehr hat auf die Schule in Wittenberg, dann kommt ihr beide zu meiner Schule nach Preetz, okay? Dort gibt es viele moderne Lehrer und noch mehr Lehrerinnen, wie dich, Eleonore, und sehr viele intelligente Kinder, wie dich, Anna. Wir brauchen unbedingt neue engagierte Lehrerinnen und noch mehr kluge Schüler!“
Das gab er mit viel Überzeugung von sich.
„Darauf werde ich vielleicht einmal zurückkommen, aber nicht so schnell“, antwortete Eleonore lachend.
„Seid ihr verheiratet?“, fragte Anna auf einmal und schaute erst Lutz und dann Eleonore an. Beide waren so überrascht, dass sie gar nicht reagieren konnten. Das tat aber auch nicht Not, denn Anna stellte fest:
„Ach, nein! Lori, du trägst ja gar keinen Ring!“ Anna schaute auf Lutz' Finger am Lenkrad und fragte:
„Aber du, du bist ja verheiratet?“
„Ja, ich bin verheiratet. Meine Frau lebt aber zur Zeit nicht hier. Sie wohnt in Berlin und mein Sohn auch.“
„Warum wohnst du nicht bei deiner Frau? Und wie alt ist denn dein Sohn?“
Eleonore griff in die Fragerei ein, drehte sich um und befahl Anna mit strengem Blick:
„Anna! Es gehört sich nicht, so viel zu fragen.“
Beschämt schaute diese nach unten und entschuldigte sich für ihre bohrenden Fragen.
„Nein, lass mal, ist schon gut. Eigentlich wohnen meine Frau, mein Sohn und ich zusammen in Preetz. Aber meine Frau muss die nächsten Wochen in Berlin um ihre Mutter kümmern. Sie hat vor kurzem ihren Mann bei einem Autounfall verloren und meine Frau hilft ihrer Mutter nun, mit dem Leben alleine fertig zu werden. Mein zehnjähriger Sohn ist zunächst mit ihr gefahren, da ich keine Zeit habe, mich um ihn zu kümmern. Er kommt allerdings bald zu mir und geht ab Ostern auf die Schule, an der ich Lehrer bin. Und dann kommt meine Frau hoffentlich auch bald nach. Ich unterrichte übrigens Sport und Mathematik.“
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