Lange trennte Lori Fritz' Brieffreundschaft streng von ihrem Aufenthalt in Holland. Dann aber entschloss sie sich eines Tages, als sie wieder einmal in Middelburg ihren Urlaub verbrachte, mit Rusty nach Sassenheim zu fahren, um Fritz zum erst Mal persönlich zu sehen. Sie verabredeten sich am Bahnhof in Sassenheim und ohne sich jemals zuvor gesehen oder Fotos ausgetauscht zu haben, erkannten sich beide sofort. Schnell stellten sie fest, dass sie ebenso gut miteinander reden wie schreiben konnten. Stundenlang unterhielten sie sich bei ausgedehnten Spaziergängen am Strand und merkten, dass sie sich blendend verstanden. Fritz war gleich vernarrt in Rusty und spielte bei jedem Stöckchen, welches er fand, mit dem Hund. Über alles konnten Eleonore und Fritz reden. Als Eleonore wieder in ihr Feriendomizil zurückfuhr, hatte sie das Gefühl, ihn schon immer gekannt zu haben. Sie waren nicht ineinander verliebt, nein. Aber sie hatten sich als Menschen gefunden, die einander seelenverwandt waren.
Und jetzt schrieb Eleonore sich alles von der Seele: den Besuch bei den Eltern, ihre Sorgen um Anna, die im nächsten Winter immer tagsüber draußen sein musste, das Treffen mit Lutz, die phlegmatischen Wittenberger Eltern der Dorfbevölkerung und sogar ihre Gedanken zu ihren Studienarbeiten ließ sie nicht aus. Aber am meisten beschäftigte sie das Thema Lutz. Über ihn schrieb Eleonore ausgiebig. Wie sie ihn kennengelernt hatte, wie er aussah, wie er redete, welchen Beruf er ausübte, dass sie mit ihm Picknick gemacht und auch, dass sie ihn geküsst hatte. Das überwältigende Gefühl beim Sex schilderte sie ihm allerdings dann doch nicht.
Sie schrieb ihre Briefe auf ganz dünnem Papier, damit der Versand nicht so teuer wurde. Als sie den Brief beendet hatte, sah sie auf ihre Uhr und erschrak. Es war bereits ein Uhr nachts. Das konnte ja gar nicht angehen. Sie ging ins Wohnzimmer und schaute auf die große Uhr. Tatsächlich, auch sie zeigte ein Uhr an. Schnell schrieb sie noch die Anschrift und den Absender auf den Briefumschlag, legte den Brief auf die Kommode im Flur, um morgen nicht zu vergessen, ihn in den Briefkasten zu stecken und begab sich nach dem Zähneputzen ins Bett, wo sie augenblicklich erleichtert einschlief.
Lutz war nicht nur als Lehrer sehr engagiert, er interessierte sich nebenbei auch für alternative Schulformen und unterschiedliche Lehrmethoden. Er ließ keine Gelegenheit aus, sich fortzubilden und hielt sogar manchmal an der Kieler Universität Vorträge. Die Schulleitung gab ihm in diese Richtung oft Freiraum, so dass er neben seiner Lehrertätigkeit genug Zeit fand, sich um die pädagogische Forschung zu kümmern. So nahm er sich auch manchmal die Freiheit, während der Arbeitszeit nach Wittenberg zu fahren, um Eleonore und ihre Schüler beim Unterrichten zu beobachten. Ab und zu konnte er sich dann witzige Bemerkungen nicht verkneifen, was alle Schüler und Eleonore herzlich zum Lachen brachte. Es kam, dass seine Besuche regelmäßig mit großem Jubel kommentiert wurden. Nach jeder Schulstunde, wenn alle Kinder auf dem Pausenhof tobten, diskutierten Eleonore und Lutz fachmännisch weiter. Sich dann voneinander zu trennen, fiel ihnen nicht leicht, aber sie vermischten die Besuche, bei denen er „offiziell“ zu ihr kam, niemals mit Privatem. Sie gingen nie in Eleonores Wohnung, sondern blieben immer im Klassenzimmer oder im Lehrerzimmer und handhabten sein Auftreten als offiziellen Schulbesuch.
Trafen sie sich privat, mussten sie höllisch aufpassen. Meistens besuchte Lutz seine Eltern, unterhielt sich mit ihnen, trank Kaffee, aß Kuchen und täuschte anschließend einen längeren Spaziergang vor. Stattdessen ging er zu Eleonore. Dabei musste er sich von hinten über die Felder der Schule nähern, um nicht gesehen zu werden. Bei der Schule warf er vorsichtig kleine Steinchen an Eleonores Küchenfenster, bis sie ihn hörte. Oder er schlich sich wie ein kleiner Junge von hinten an das Schulgebäude und stieg durch die oftmals geöffneten Fenster ins Klassenzimmer. Wenn er dann vor ihr stand oder gegen ihre Wohnungstür klopfte, lachten sich beide scheckig und fühlten sich wie zwei kleine Kinder, die einen Streich vollführt hatten. Sie mussten immer aufpassen, nicht gesehen zu werden, denn Dorfklatsch in Wittenberg verbreitete sich auch ohne direkten Nachweis einer Untat schneller als jedes Buschfeuer.
Einige Monate waren nun schon vergangen, seid Eleonore und Lutz sich zum ersten Mal gesehen hatten. Es war Februar und der Winter dieses Jahres war sehr kalt. Anna und die anderen Flüchtlingskinder hatten eine sehr schwere Zeit. Sie mussten bei jedem Wetter draußen bleiben. Der Bauer hatte kein Erbarmen, er hasste alle Flüchtlinge und besonders die Flüchtlingskinder. Anna war dennoch gesund, sicher härtete das ständige Spielen im Freien ab. Sie und die anderen Kinder hatten bei der bitteren Kälte Unterschlupf in der Scheune gefunden. Bis vor drei Wochen hatten alle Kinder immer Spaß daran, in der Scheune zu spielen, aber nun hatte es leider angefangen mächtig zu schneien und vor allem zu stürmen. Die eisige Kälte blies durch die vielen Ritzen in der Scheune und ließ die Kinder erbärmlich frieren.
Eleonore war nach ihrem letztem Besuch bei Anna und ihren Eltern Ende Januar außerordentlich entsetzt, dass ihre kleine Schwester immer noch den ganzen Tag in der Kälte verbringen musste. Es tröstet sie wenig, dass auch die anderen Kinder draußen bleiben mussten. Sie hatte es zwar von Anfang an gewusst, aber geglaubt, der Bauer würde Erbarmen zeigen. Zwei Tage nach dem Besuch rief Eleonore bei ihren Eltern an und schlug vor, Anna zu sich zu holen. Lutz hatte das ja bereits damals vorgeschlagen und diese Idee war nun in Eleonore so gereift, dass sie es in die Tat umsetzen wollte. Ihre Sorgen, Anna könnte draußen ernstzunehmende Erfrierungen erleiden, überzeugten ihre Eltern und sie willigten wider Erwarten relativ schnell ein. Sie hatten Anna wohl mittlerweile doch so lieb gewonnen, dass sie sich um ihre Gesundheit sorgten. Es war auch möglich, dass ihre Eltern erleichtert waren, ihr ungewolltes Kind loszuwerden. Man konnte es nicht genau deuten.
Gleich das folgende Wochenende fuhren Eleonore und Lutz los, um Anna zu holen. Lutz wartete im Auto, während Eleonore in der Wohnung der Eltern die Sachen für Anna packte. Ihre Mutter war dazu nicht fähig gewesen. Anna lief während der Zeit aufgeregt hin und her und schaute immer wieder aus dem Fenster. Sie durfte ja eigentlich nicht im Haus sein. Sie hatte schreckliche Angst vor dem Bauern. Eleonore beruhigte sie und sagte:
„Mach dir keine Sorgen. Der Bauer macht jetzt bestimmt keinen Ärger, er ist sicher froh, dich los zu werden.“
„Meinst du?“, fragte Anna und schaute sie ängstlich an.
„Ja!“
Anna schaute weiter aus dem Fenster und entdeckte Lutz, der vor dem Auto wartete.
„Wer steht denn da am Auto?“, fragte sie und hüpfte weiter herum. Ach, was freute sie sich auf das Leben bei der großen Schwester!
„Wieso?“, fragte Eleonore lächelnd.
„Da steht ein Mann bei dem Auto im Hof. Wer ist das?“
„Er ist ein Bekannter von mir und wartet darauf, uns nach Wittenberg zu bringen. Die Wettervorhersage sagt noch viel, viel mehr Schnee voraus. Mit dem Bus wäre ich wesentlich länger unterwegs gewesen und wir hätten vielleicht den Rückweg nicht rechtzeitig antreten können. Somit war mein Bekannter so nett zu fahren.“
„Was denn für ein Bekannter?“
Anna ließ sich nicht so einfach abwimmeln.
„Es ist ein Bekannter, dessen Eltern in Wittenberg leben. Er selber ist auch Lehrer, aber in Preetz an einer großen Schule. Er war heute so nett, sich als Taxifahrer anzubieten“, antwortete Eleonore schmunzelnd und ahnte, welche Fragen die nächste Zeit auf sie zukämen.
„Wieso hast du denn so viel Geld, eine Taxe zu bestellen?“, fragte Anna erstaunt.
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