„Ring - ring - ring …!“
Eleonore lauschte nun auch aufmerksam, während ihr Blick durch das Zimmer schweifte und an der Tür heften blieb. Ein klingelndes Telefon war für Eleonore genau so neu, wie für Rusty, denn erst seit drei Tagen gab es ein solches in diesem Gebäude. Das erklärte nun auch Rustys Unruhe, denn er bellte nur bei neuen ungewohnten Geräuschen. Eleonore stand auf und begab sich in Richtung des Telefons. Sie zögerte etwas und überlegte, wer sie denn anrufen könnte. Die Nummer ihres Telefonanschlusses konnte kaum einer kennen, denn sie hatte sie bisher nur ihren Eltern mitteilen können, später wollte sie sie auch an alle Schüler weitergeben. Eleonore wartete, ob das Klingeln endete, doch es läutete unentwegt weiter. Es klang so unwirklich. Sie fühlte sich ein bisschen wie in einem unrealistischen Zukunftsfilm und hoffte, es hätte sich jemand verwählt und würde wieder auflegen. Aber es klingelte kontinuierlich weiter. Dann war es wohl tatsächlich ein Anruf für sie und es konnten somit nur ihre Mutter oder ihr Vater sein.
Eleonore verließ das Zimmer und betrat den Flur ihrer Wohnung. Rusty ging schwanzwedelnd hinterher. Hier im Flur hallte das Telefon wesentlich eindringlicher, was Rusty verlockte, erneut energisch zu bellen. Eleonore beschleunigte ihren Schritt, denn sie war doch neugierig, wer am Nachmittag in ihrer zu dieser Zeit leeren Dorfschule anrief. Eigentlich war sie sich ziemlich sicher, dass es ihre Mutter war. Zügig eilte sie den langgezogenen Flur entlang, kam ins Treppenhaus des Schulgebäudes und stieg die steile Holztreppe hinunter. Nun befand sie sich im Eingangsbereich des Hauses. Rechts neben der Treppe war die große Eingangstür. Sie bestand aus zwei großen Holzflügeln, die Eleonore jeden Morgen weit öffnete. Es sah immer aus, als lade sie alle Kinder mit weit ausgestreckten Armen in ihre Schule ein.
Plötzlich war es ganz still. Das Telefon hatte aufgehört zu klingeln. Eleonore blieb stehen, verharrte und horchte. Kein Ton war mehr zu hören. Nun ärgerte sie sich, nicht schneller gelaufen zu sein, denn die Neugierde hatte gesiegt. Das Telefon hatte die übliche Ruhe genau so schnell zerrissen, wie es sie wieder herstellte. Eleonore schaute sich um, als erwarte sie jemanden. Dann besann sie sich, dass ja nur das Telefon und nicht die Türklingel geläutet hatte und ging zum Klassenraum, der sich direkt gegenüber der Eingangstür befand. Es war ein schönes, geräumiges Klassenzimmer mit vier Tischreihen. Jeweils zwei Reihen standen parallel aneinander, so dass sich die Kinder gegenüber saßen und anschauen konnten. Um zum Lehrerpult zu sehen, mussten die Schüler immer zur Seite blicken, was aber keines der Kinder störte. Auf den Tischen standen ordentlich die Stühle der Kinder. Es gab hier Platz für vierzig Schüler in dem einladend hellen Raum. Die Breitseite hatte vier große Fenster, durch die die Sonne gerne schien und die hellgelb gestrichenen Wände zum Leuchten brachte. An den Wänden hingen viele bunte Bilder der Kinder. Alles sah sehr fröhlich und verspielt aus. Ein schönes, braunes, altes Klavier mit gedrechselten Beinen und zwei Kerzenhaltern mit weißen Kerzen an dem Tastendeckel stand schräg in einer Ecke des Raumes. An dem aus vier Regalböden bestehenden hüfthohen Regal neben dem Klavier lehnten ein Geigenkasten und eine kleine Wandergitarre. Auf dem obersten Regalbrett befanden sich ein Triangel, Klanghölzer, ein Tamburin, eine Rassel aus Muscheln und zwei Schellen. In dem sich darunter befindenden Regalboden stapelten sich Massen an Notenbüchern. Die beiden unteren Regale waren mit diversen Büchern voll gestellt.
Direkt neben dem Klassenzimmer lag das Lehrerzimmer, gegenüber befanden sich die Mädchen- und die Jungentoilette.
Eleonore überlegte, ob sie wieder nach oben in ihre Wohnung gehen sollte, entschied sich aber anders. Sie begab sich in ihr geliebtes Lehrerzimmer. Da sie auf dieser Dorfschule die einzige Lehrerin war, hatte sie sich ihr Lehrerzimmer nach ihrem eigenen Geschmack einrichten können. Es war ein Raum von ungefähr 20 m² mit zwei Fenstern an der linken Wand. Betrat man den Raum, schaute der Besucher sogleich auf Eleonores Schreibtisch, hinter dem ein großer Schreibtischstuhl mit ausladenden Armlehnen Platz fand. Man konnte sich mit ihm drehen, was Eleonore gerne tat, um besser denken zu können. Um besonders abgespannten Schülern ab und zu eine Auszeit zu gönnen, hatte Eleonore vor eines der Fenster einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen gestellt. Dort durften die Schüler sich dann etwas erholen oder in aller Ruhe bearbeiten, was sie in der Klasse nicht schafften. Eleonore horchte auf. Hatte das Telefon nicht eben geknackt? Nein,- es blieb still. Sie verharrte, schaute sich um und versank in Gedanken.
Vor einigen Wochen hatte sie zwei große Gummibäume erstanden. Beide hatten bereits eine stattliche Höhe von zwei Metern erreicht. Sie standen im Lehrerzimmer jeweils in großen Übertöpfen rechts und links neben dem Tisch und breiteten großflächig ihre Blätter über ihn aus. Eleonore liebte Pflanzen, hatte aber kein Händchen für sie. Damit die Pflanzen bei ihr überhaupt eine Überlebenschance hatten, fand sie in der Not eine sehr gute Lösung: ihre Schüler hatten regelmäßig Gieß- und Versorgungsdienste für die Gummibäume. Sogar in den Ferien gab es freiwillige Pfleger. Vorteilhaft war natürlich auch, dass diese Gewächse sehr pflegeleicht waren.
An der rechten Zimmerwand hing eine afrikanische Maske aus Holz und unter dieser stand eine Buschtrommel, die den Kindern bis zum Bauch reichte. Die Kinder liebten es, in dieser afrikanisch, mystischen Atmosphäre in aller Ruhe Arbeiten zu verrichten oder einfach nur einmal abzuschalten und sich träumend hinzusetzen oder vorsichtig die Trommel auszuprobieren, was sie leise durften. Wiederholt fragten die Schüler Eleonore während des Unterrichts, ob sie in den „Erholungsraum“ dürften. Meistens erlaubte Eleonore es ihnen, allerdings war es immer maximal zwei Kindern erlaubt, sich dort aufzuhalten, es sei denn, sie bereiteten einen Vortrag vor. Dann gestattete es Eleonore auch drei oder vier Kindern gleichzeitig. Oft hörte sie die Buschtrommel leise klingen. Aber nie missbrauchten die Kinder ihre Freiheit in dem Lehrerzimmer, tobten dort herum oder stellten Unsinn an. Die Schüler wussten Eleonores Großzügigkeit zu schätzen.
Eleonore hatte den richtigen Weg gefunden, wie man Kindern Verantwortung übertrug, ohne dass sie es ausnutzten. Leider eckte sie mit dieser Idee des Erholungsraums bei den Eltern an. Sie waren den Frontalunterricht gewohnt und wollten ihn auch für ihre Kinder beibehalten. Ihre Kinder sollten nicht unbeaufsichtigt im Nebenraum spielen dürfen. Diesmal schwor sich Eleonore allerdings, sich nicht unterkriegen zu lassen. Schon einmal hatte sie gekämpft und verloren. Jetzt war Schluss! Dieses hier war ihre Schule und sie wollte bestimmen, was darin geschah.
Mehrfach schon hatte Eleonore Gespräche mit den Eltern geführt, um sie von dem pädagogischen Wert dieses Erholungsraumes zu überzeugen. Das war aber nicht sehr einfach. Letztendlich hatte sie es auch nicht wirklich geschafft und den Kampf aufgegeben, alle überzeugen zu wollen.
Ebenso gefielen den Eltern ihrer Schüler auch nicht die von ihnen selbstständig ausgearbeiteten und vorgebrachten Vorträge. Die Eltern wollten, wenn ihre Kinder schon zur Schule gehen mussten und in der Zeit nicht im häuslichen Betrieb helfen konnten, dass ihre Kinder etwas lernten und zwar mit Disziplin und Ordnung. Kinder hatten still zu sitzen und der Lehrerin zuzuhören. Sie sei verantwortlich für den Unterrichtsstoff und die Art, ihn den Kindern zu vermitteln. Würden ihre Kinder die Vorträge selber vorbereiten, bräuchten sie ja nicht mehr in die Schule zu gehen! Das waren ihre Argumente.
Vor zwei Wochen kam Eleonore auf die Idee, einen Elternabend einzuberufen und den Eltern den pädagogischen Wert ihrer Lehrmethoden näher zu bringen. Sie ließ jedes Kind in Schönschrift eine Einladung schreiben und bat sie, den Eltern den Brief zu geben. Die Hälfte der Schüler kam am nächsten Tag wieder und äußerte, ihre Eltern hätten keine Zeit für Elternabende. Von der anderen Hälfte erschienen letztendlich fünf Eltern. Und das waren diejenigen, die Eleonores revolutionären pädagogischen Ideen schon zuvor gut fanden.
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