Im Gegensatz zu ihr gingen Bernd Reller, Lars Gronau und andere Kollegen mit der Einführung des neu entworfenen Unterrichtsstils wesentlich behutsamer vor, um nicht auf zu viel Widerstand zu stoßen. Eleonore war wesentlich resoluter und ließ sich von abgeneigten Kollegen und Eltern nicht einschüchtern. Ihr moderner Unterrichtsstil widersprach allen bisherigen Methoden. Im Gegensatz zu den meisten Kollegen, war sie immer freundlich zu ihren Schülern und züchtigte sie nie körperlich. Für sie stand jeder einzelne Schüler im Vordergrund, für den sie sich auch nach dem Unterricht oder in den Pausen Zeit nahm. In jeder Klassenarbeit fand sie etwas herausragend Positives, was sie am Ende der Arbeit schriftlich besonders betonte und lobte. Sie verteilte nie Fünfen und Sechsen. Wie mit ihren Kollegen besprochen, ließ Eleonore ihre Schüler ab sofort eigene Referate vorbereiten, welche sie anschließend engagiert vortrugen. Durch ihren neuen Unterrichtsstil konnte Eleonore ihre Schüler so gut motivieren, dass alle immer gute Leistungen ablieferten und durchgängig gute Noten bekamen. Dies brachte ihr allerdings die Ablehnung der anderen Lehrer ein. Man glaubte, sie würde die Schüler zu positiv bewerten und auch die Klassenarbeiten zu leicht gestalten, eventuell dabei sogar unerlaubte Hilfestellung leisten. So ein Blödsinn! Um diese Vermutungen zu widerlegen, sah sich Direktor Reller gezwungen, ab und zu Eleonores Unterricht zu besuchen und zu beobachten. Als Direktor war er verpflichtet, sich um die Beschwerden der Kollegen und Eltern zu kümmern. Schon nach kurzer Zeit aber erkannte er den Erfolg von Eleonores Unterrichtsstil und stand schnell insgeheim voll und ganz hinter dieser modernen, jungen, einfühlsamen Lehrerin, die mutig das über Wochen neu ausgearbeitetes Unterrichtskonzept wesentlich konsequenter verwirklichte, als er und seine anderen Kollegen.
Neben den Kontrollbesuchen gab es aber noch einen ganz anderen Grund, warum Direktor Reller sich Eleonores Unterricht immer öfter ansah. Er begehrte Eleonore unbeschreiblich. Schon nach der dritten zu beobachtenden Stunde hatten sich Eleonore und Bernd Reller am gleichen Tag nachmittags zufällig in der menschenleeren Schule getroffen. Sie hatten sich bis dahin unzählige Male bei Besprechungen gesehen, miteinander diskutiert und Pläne entworfen. Aber dieses Mal trafen sie sich zufällig ohne Grund und es war niemand in der Nähe. Bei diesem ungeplanten Treffen spürten beide erstmalig, dass sie sich körperlich wie Magneten anzogen. Es traf sie wie ein Blitz und es passierte das Unvermeidliche. Ungehemmt liebten sie sich im Klassenzimmer.
Es blieb nicht einmalig. Regelmäßig nach Schulschluss, immer, wenn es Bernds Berufs- und Privatleben zuließ, kamen sie zusammen. Eleonore war sich von Anfang an bewusst, dass er verheiratet war und er seine Frau und sein Kind niemals verlassen würde. Dennoch liebte sie ihn und er sie. Es ärgerte Eleonore sehr, dass sie es nicht schaffte, die Beziehung wieder auf die sachliche Ebene zurückzulenken.
Eigentlich wollte sie damals keine Beziehung eingehen, aber sie konnte ihre Zuneigung zu Bernd nicht stoppen. Er war ein äußerst intelligenter, sympathischer und toleranter Mann. Neben seiner attraktiven Figur ließ ihn sein Vollbart äußerst attraktiv und männlich erscheinen. Seine muskulöse Figur zog viele Frauenblicke auf sich, er hatte etwas beängstigend Magisches an sich. Egal wo und wann Eleonore ihn traf, war es um sie geschehen. Von ihrer gegenseitigen Zuneigung durfte niemand etwas erfahren. Beide hatten sie große Angst, dass ihr Verhältnis an die Öffentlichkeit gelangen könnte, was den Verlust ihrer Stellen bedeutet hätte. Sie erinnerte sich, wie sie damals öfter daran dachte, die Schule zu verlassen, um Bernd zu entkommen.
Sie empfand manchmal Mitleid für Bernd, denn sie wusste, dass er in einer großen Zwickmühle steckte. Er liebte sie wirklich sehr, aber er liebte auch seine Frau und sein Kind und würde seinen Beruf und seine Familie niemals wegen einer Affäre aufs Spiel setzen wollen. Wenn aber Eleonores Mitleid wieder einmal verebbte, spürte sie eine große Wut, gemischt mit Verachtung. Er hatte kein Rückgrat und keine eigene Meinung, sonst stände er offen zu ihr und würde sich von seiner Frau trennen. Man konnte eben nicht zwei Frauen lieben, er musste sich für eine entscheiden! Schwächling!
Eleonore tauchte tiefer in ihre Erinnerungen ein und sah den entscheidenden Tag wieder ganz genau vor sich. Es war ein Montag und ihr kam es vor, als wäre es gestern gewesen. Bernd musste die große Holztreppe in der Schule extra leise hoch geschlichen sein, ansonsten hätte sie ihn sicher kommen hören. Eleonore erschrak sich heftig, als er plötzlich in der Tür erschien. Sie hatte ja gewusst, dass Bernd noch in der Schule war, aber nun war sie doch von seinem Erscheinen überrascht. Er sah sie an und sagte leise:
„Hallo, Eleonore.“
Seine weiche Stimme ließ sie schon von Beginn an willenlos werden. Bernd übte auf sie eine magische Anziehung aus, sie war nicht mehr Herr ihrer Sinne. Er lehnte sich lässig an den Türrahmen und lächelte.
„Hallo Bernd“, war ihre Antwort und die Gefühle spielten verrückt. Konnte sie denn nicht ein einziges Mal auf ihn treffen und nur mit dem Kopf handeln? Das ging doch früher auch! Im Nachhinein ist es ihr ein Rätsel, dass ein Mann sie so willenlos werden ließ.
„Wie geht es dir denn so?“, fragte er mit einschmeichelnd, tiefer Stimme.
„Gut!“, antwortete sie in der Hoffnung, möglichst selbstsicher zu klingen, was sie durchaus nicht war. Er sah verdammt gut aus. Schon öfter hatte sie ihn heimlich beobachtet, wenn er morgens den Schulhof entlang ging und sie bereits oben im Klassenzimmer auf den Beginn des Unterrichts wartete. Im Lehrerzimmer hielt sie sich nur sehr selten auf, sie wusste zum einen nicht mehr, wie sie sich Bernd gegenüber in der Öffentlichkeit verhalten sollte und zum anderen war sie auch die verachtenden Blicke ihrer Kollegen leid.
„Bist du denn noch nicht für heute fertig?“, fragte er und schaute sie dabei leicht besorgt an.
„Nein, ich muss noch ein paar Arbeiten korrigieren. Das tue ich am liebsten hier, da es so schön still ist und ich mich besser in den jeweiligen Schüler hineinversetzen kann. Außerdem muss ich den ganzen Batzen Papier dann nicht zu Fuß nach Hause tragen und wieder zurück“, antwortete Eleonore.
„Achte darauf, dass die Arbeiten insgesamt nicht zu gut ausfallen! Sonst gibt es wieder Ärger und böse Blick von den Kollegen und auch von den Eltern“, gab Bernd ihr nicht zum ersten Mal als Tipp mit auf den Weg.
„Du weißt doch, dass ich darauf gar nicht achte. Ich zensiere die Arbeiten so, wie ich es für richtig halte und wie wir es gemeinsam abgesprochen haben. Andere können ja ihre Fünfen und Sechsen weiterhin verteilen. Ich nicht, ich bin von unserem Konzept hundertprozentig überzeugt. Wenn es dir nicht gefällt, musst du mich entlassen“, war nun Eleonores entschiedene Antwort auf seine Andeutung. Sie versuchte ihre Gefühle zu ihm zu unterdrücken und die Situation nur auf den Schulalltag zu lenken, was ihr ganz gut gelang, denn es ging darum, ihr pädagogisches Prinzip an den Mann zu bringen.
„Du, ich wollte dich nicht kritisieren. Ganz bestimmt nicht. Entschuldigung. Du weißt doch ganz genau, dass ich hinter dir stehe. Aber würdest du meinen Ratschlag nur ein kleines bisschen befolgen, hättest du schon einige Gegner weniger. Ich sage ja nur, dass du unser Konzept nicht mit dem Holzhammer durchsetzen sollst, sondern etwas behutsamer“, gab er mit einem leichten Lächeln von sich.
„Ich möchte jedem Kind gerecht werden. Was für ein Unsinn, einen bestimmten Klassendurchschnitt zu erzielen. ‘Sie müssen aber mindestens eine Fünf vergeben’, wollte mir doch neulich Frau Albers vorschreiben. In welchem Jahrhundert lebt diese Frau?! Wir haben doch gemeinsam entschieden, dass wir uns von solchen Prinzipien lösen wollen! Erinnerst du dich?“
Читать дальше