„Ja, das stimmt. Auch in Preetz scheinen mir die Kinder glücklicher. Aber wir können die Lage hier nicht ändern!“
Dann aber überkam Eleonore auf einmal ein Glücksgefühl. Es war wie ein Blitz. Ganz plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie die Lage ändern könnte! Ja, richtig, genau sie, sie könnte die Lage zumindest für eine Familie mit einem Kind ändern. Nämlich für ihre Eltern und ihre Schwester Anna! Warum war sie nicht schon vorher darauf gekommen? Wie hatte sie es bisher überhaupt dulden können, ihre Schwester hier groß werden zu lassen? Auf einmal wusste sie, was ihre Berufung war: sie musste ihre Eltern und vor allem ihre Schwester aus diesem Milieu holen! Sie mussten woanders hinziehen. Eleonore lächelte auf einmal, schaute Herrn Gronau siegesgewiss an und sagte mit großer Überzeugung:
„Doch, man kann etwas tun und ich werde etwas ändern! Sie werden sehen!“
Sie bedankte sich nun eilig bei Herrn Gronau für die Mitnahme und die nette Unterhaltung während der Fahrt und verabschiedete sich.
„Wann fahren Sie denn wieder nach Hause? Ich könnte Sie sonst heute Abend wieder mitnehmen?“, bot Herr Gronau an.
„Das würden Sie tun?“, fragte Eleonore völlig überrascht von so viel Freundlichkeit. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie sich über die Rückfahrt gar keine Gedanken gemacht hatte. Sehr wahrscheinlich fuhr heute auch kein Bus von Kiel nach Wittenberg.
„Aber ja!“, antwortete Herr Gronau und lächelte Eleonore an.
„Gerne nehme ich Ihr Angebot an“, antwortete sie schnell entschlossen und verabredete sich mit ihm für acht Uhr abends am gleichen Ort. Sie bat Herrn Gronau seinem Bruder schöne Grüße von ihr auszurichten, ehe sie dem Wegfahrenden noch hinterherwinkte und ging anschließend ohne Zögern zum Hauseingang der Eltern und klingelte bei Hermann Müller. Jedes Mal wunderte sie sich, dass an der Klingelanlage ausgerechnet bei dem Klingelknopf ihrer Eltern der Name am deutlichsten zu lesen war! Und das gerade bei Leuten, die so gut wie nie Besuch bekamen. Sie hatten weder Freunde noch Bekannte. Die einzige Besucherin der Eltern war sie selbst. Kurz nachdem sie die Klingel betätigt hatte, summte es an der Eingangstür und sie konnte die Tür zum Treppenhaus öffnen. Eigentlich erstaunlich, dass so ein zerfallenes Haus mit dem Luxus dieser Klingel ausgestattet war!
Im Treppenhaus überkam sie wieder ein so grausam, beklemmendes Gefühl. Überall bröckelte die Farbe von den Wänden. Die Treppe im Treppenhaus war abgenutzt, an vielen Stellen abgeschlagen und ausgetreten. Vor den Türen standen Schuhe und Krempel, zum Teil auch kaputte Gegenstände und Müll. Die meisten Schuhe waren schmutzig, porös, ohne Schnürsenkel oder mit abgelaufenen Sohlen. Gerümpel wurde hier wohl so entsorgt, dass man es ins Treppenhaus legte und dort vergaß. Es war dunkel und roch muffig, dreckig, abgestanden und nach Urin. Hinter einer Tür hörte Eleonore ein Kind weinen, hinter einer anderen rief ein Mann laut nach seinem Bier. Im dritten Stock klopfte ein weinendes Kind verzweifelt an die Tür und ihm wurde nicht geöffnet. Endlich im vierten Stock angekommen, war Eleonore etwas außer Atem und verharrte einen Moment vor der Tür ihrer Eltern, um nicht völlig abgehetzt und atemlos vor ihrer Mutter zu erscheinen. Als sich ihr Pulsschlag normalisiert hatte, klingelte sie an der Wohnungstür. Sie hörte schnelle Schritte auf dem Flur hinter der Tür und eine Kinderstimme rufen:
„Das ist sie, das ist sie! Juhu, Eleonore kommt. Eleonore, Lori...“, abrupt brach die Stimme ab und die Wohnungstür wurde so plötzlich aufgerissen, dass Rusty nervös bellte und Eleonore bei dem plötzlichen Lärm erschrak und einen Satz nach hinten machte. Doch im nächsten Moment hatte sie sich gefangen und strahlte über das ganze Gesicht. Sie breitete ihre Arme aus und ihre kleine Schwester Anna sprang ihr an den Hals. Eleonore küsste und drückte sie innig. Die kleinen, extrem dünnen Ärmchen umarmten Eleonore und klammerten sich an ihr fest. Wie liebten sie sich beide! Und jetzt, da Eleonore den Entschluss gefasst hatte, vor allem Anna und wenn möglich auch ihre Eltern mit allen Mitteln aus diesem Elend zu holen, konnte sie ihre ganze Liebe auf Anna übertragen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, nach diesem Besuch nach Hause zu gehen und ein kleines, trauriges, weinendes Kind zurückzulassen.
„Lori, Lori, da bist du ja endlich!“, rief Anna. „Ich habe schon so lange auf dich gewartet. Wo wohnst du denn jetzt? Keiner singt mir mehr etwas vor und erzählt mir Geschichten! Oh wie schön, dass du wieder da bist!“
„Ja, Anna, ich freue mich auch sehr, dich wieder zu sehen. Du bist ja schon wieder ein Stückchen gewachsen. Und deine blonden Zöpfe sind die längsten und schönsten, die ich kenne!“, antwortete Eleonore.
Sie drehte sich mit Anna auf dem Arm, was bei dem Fliegengewicht kein Problem war und drückte sie fest an sich. Rusty freute sich ebenfalls und sprang bellend an beiden hoch. Eleonore gab ihr einen innigen Kuss auf die Wange. Dann setzte sie Anna wieder auf dem Boden ab. Rusty leckte der Kleinen das Gesicht ab, was sie aber gar nicht störte. Im Gegenteil, Anna lachte herzlich dabei und kuschelte ausgiebig mit dem Hund. In der Zwischenzeit war Eleonores Mutter an der Tür erschienen. Sie trug wie immer über ihrem Kleid eine weiße Schürze. Eigentlich war ihre Mutter immer mit einer Schürze bekleidet, weil sie entweder kochte oder etwas säuberte. Und bei diesen Tätigkeiten trug man nun einmal eine Schürze. Sie hatte scheinbar wieder etwas abgenommen und sah im Gesicht grau aus. Ihre trüben Augen schauten traurig drein. Sie hatte die Haare streng zurück gebürstet und zu einem Dutt gebunden, auch wie immer.
„Eleonore, wie schön, dass du da bist. Ich hatte so eine Sehnsucht nach dir. Du fehlst mir so sehr!“
Während sie dies sagte, umarmte ihre Mutter sie. Eleonore wusste sofort, warum sie ihr fehlte. Jetzt musste ihre Mutter sich nämlich selbst um das Kochen, Putzen, Wäschewaschen, Einkaufen und nebenbei auch noch um Anna kümmern. Es gab keine Eleonore oder Elfrida mehr, die ihr halfen.
Eleonore hatte kein Mitleid mit ihrer Mutter oder ihrem Vater. Aber ihr Mitleid mit der kleinen Schwester war grenzenlos. Die Kleine wuchs nicht nur in diesem trostlosen, dunklen, kalten Loch auf, sondern hatte auch noch Eltern, die sie ablehnten und sich kein bisschen für sie interessierten. Nein, so konnte es nicht weitergehen. Eleonore musste die Eltern überzeugen, diese Wohngegend zu verlassen, sie durften hier nicht länger bleiben. Ihr Vater würde von sich nichts unternehmen, dieser Lage zu entkommen, denn er war zu selten zu Hause, als dass ihn hier irgendetwas störte. Meistens kam er sehr spät in der Nacht angetrunken nach Hause, warf sich auf sein Lager und ging früh morgens wieder zur Arbeit. Das Wochenende verbrachte er in irgendwelchen Kneipen mit seinen Kollegen oder Kumpanen. Die Familie würde letztendlich völlig zerbrechen und ihre kleine Schwester jämmerlich zu Grunde gehen, wenn Eleonore jetzt nicht die Initiative ergriff und etwas Entscheidendes änderte.
Anna kuschelte immer noch mit Rusty. Eleonore schaute den Flur der Wohnung entlang. Ihre Mutter war in der Küche verschwunden und hatte sie im Flur stehen lassen. Der Flur war ein langer, schmaler Schlauch, an dessen Stirnseite die Küche lag. Gleich hinter dem Eingang befand sich rechts das Elternschlafzimmer mit einer kleinen Dachluke. Neben dem Schlafzimmer war das Wohnzimmer. Es hatte wie das Schlafzimmer auch nur eine kleine Dachluke. Selten schien hier die Sonne hinein. Anna schlief im Ehebett, da die Wohnung nirgends Platz für ein Kinderbett bot. Der Vater nächtigte, damit er durch sein Schnarchen nicht alle wach hielt, meistens im Wohnzimmer auf dem Sofa.
„Kommt!“, rief Anna ganz aufgeregt und nahm Eleonore an die Hand und Rusty am Halsband.
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