„Ein bisschen merkwürdig ist es schon, mit einem fremden Mann zu fahren“, stellte Eleonore nun fest.
„Ich hoffe, ich war Ihnen nicht zu aufdringlich? Ich gehöre eigentlich nicht zu den Männern, die so draufgängerisch sind. Das mag ich nämlich auch nicht, denn es ist den Frauen gegenüber respektlos.“
Er schaute kurz zu ihr, überlegte und setzte dann fort:
„Als ich Sie eben so alleine sah, wirkten Sie auf mich sehr angespannt. Da dachte ich mir, wenn Sie jetzt auch noch bemerken, dass der Bus nicht fährt, wären Sie so richtig am Boden zerstört. Eine Art Intuition meinerseits sorgte dafür, dass ich anhielt. Manchmal habe ich so etwas und dann ist es wie ein Zwang, das zu tun, was mir der Kopf befiehlt. Das Erstaunlichste daran ist, dass ich mich in den Situationen noch nie getäuscht habe. Es ist immer wie ein Wink Gottes.“
Eleonore konnte es sich nicht verkneifen, ironisch zu fragen:
„Und da haben Sie sich heute gedacht, machen Sie doch einmal etwas Selbstloses, damit Sie in der Kirche nicht beichten müssen?“
Der Mann schmunzelte und entgegnete:
„Da muss ich Sie leider enttäuschen. Ich gehe nicht in die Kirche, bin allerdings Mitglied, da ich sonst meinen Beruf nicht ausüben könnte. Ich bin eigentlich nicht religiös, sondern überzeugter Agnostiker.“
Mittlerweile fuhren sie langsam die Dorfstraße herunter. Eleonore schaute ihn fragend an. Er begann zu erklären:
„Agnostizismus ist eine Weltanschauung. Sie hebt die prinzipielle Begrenztheit menschlichen Wissens hervor. Auf die Frage, ob es einen Gott gibt, antwortet der Agnostiker zum Beispiel mit: Ich weiß es nicht! Und nicht mit Ja oder Nein.“
„Ja, ja“, antwortete Eleonore. „Ich kenne den Begriff des Agnostikers. So gesehen bin ich ebenfalls Agnostikerin. Aber mein fragender Blick bezog sich auf Ihren Beruf. Welchen Beruf üben sie aus?“
Der Mann hielt plötzlich seine Hand vor den Mund und sagte:
„Ach,- entschuldigen Sie, mir fällt gerade ein, ich habe ja ganz vergessen mich vorzustellen. Also: Ich heiße Lutz Gronau und bin gebürtiger Wittenberger.“
Sie hatten mittlerweile den Ortsausgang erreicht und Herr Gronau beschleunigte auf der Landstraße die Fahrt. Eleonore wartete auf weitere Erklärungen seinerseits. Als er aber keinen Ansatz startete, fragte sie:
„Und welchem Beruf gehen Sie nun nach?“
„Ach ja, das wollte ich ja sagen. Also, ich bin Lehrer auf der Gesamtschule in Preetz. Und heute bin ich auf dem Weg nach Kiel, um meinen Bruder zu besuchen. Der wohnt in Kiel-Gaarden und ist übrigens auch Lehrer. Das ist wohl vererbbar oder ansteckend.“
Herr Gronau schaute sie kurz fragend an, ehe er seinen Blick wieder nach vorne richtete. Eleonore lachte und überlegte, wie viel sie von sich preisgeben sollte. Irgendwie hatte sie zu diesem Mann großes Vertrauen. Er wirkte sehr ehrlich und warmherzig. Also entschloss sie sich zu Folgendem:
„Ich bin Eleonore Müller und habe vor einem Monat die Leitung der Wittenberger Dorfschule übernommen.“
Herr Gronau musste nun laut lachen.
„Was für eine Neuigkeit“, rief er. Er schaute dabei nur auf die Straße. Sein Lachen war so herzlich, dass Eleonore ebenfalls mit einstimmte. Das Eis war gebrochen. Und ohne Umschweife erzählte Eleonore, allerdings etwas ungeordnet:
„Meine Eltern leben mit meiner kleinsten fünfjährigen Schwester in Kiel-Gaarden. Meine andere Schwester ist ein Jahr jünger als ich und wohnt in Stuttgart. Ich war bis vor kurzem Lehrerin auf der Realschule in Kiel-Gaarden. Davor absolvierte ich in diversen Schulen obligatorische Praktika, zum Beispiel in Rönne und Rüfrade.“
Herr Gronau überlegte kurz und stellte dann belustigt fest:
„Es ist schon komisch, neben der Schulleiterin der Schule zu sitzen, in der ich viele Jahre meiner Kindheit verbrachte.“
Dann aber fragte er ernsthaft interessiert:
„An welcher Schule in Kiel-Gaarden waren sie denn tätig?“
„An der Gaardener Realschule. Das Gebäude der Schule ist eine wunderschöne alte Villa. 1909 war sie die modernste Schule von Kiel und hat auch heute noch einen guten Ruf. Abgesehen vom angestrebten modernen pädagogischen Konzept an dieser Schule, ist es auch noch eine unglaublich hübsche Schule, an der das Unterrichten prinzipiell richtig Spaß brachte“, schwärmte Eleonore.
„Ich weiß!“ antwortete Herr Gronau.
„Woher?“ fragte Eleonore.
„Mein Bruder ist dort ungefähr seit drei Jahren Lehrer.“
„Nein, so ein Zufall“, antwortete Eleonore überrascht, überlegte kurz und fragte:
“Ist es etwa Lars Gronau, der nette große schlanke Englisch- und Geschichtslehrer?“
„Ja, genau der. Sie kennen ihn?“, fragte Lutz und gab sich selbst die Antwort: „Ach, ja. Natürlich! Sie müssen ihn ja kennen, wenn Sie auch dort unterrichteten.“
„Ja, sicher. Ich kenne ihn sogar sehr gut, denn wir haben mit dem Direktor, Herrn Reller, das neue pädagogische Konzept erarbeitet, nachdem die Schule nun schon seit einigen Monaten vorgeht.“
„Ich hörte davon und auch, dass das Konzept mittlerweile auf positive Resonanz stieß,“ Lutz Gronau zögerte etwas und sagte dann: „Es gab und gibt immernoch auch viele negative Kritiken.“
„Ja, leider. Die Eltern und auch ein Teil der Lehrerschaft waren und sind immer noch sehr konservativ. Sich gegen Altgewohntes durchzusetzen scheint fast unmöglich. Und in Wittenberg ist es noch schwieriger. Die Eltern können sich hier gar nicht an die humaneren Lehrmethoden gewöhnen. Aber ich gebe den Kampf so schnell nicht auf!“
Herr Gronau fragte:
„Das finde ich sehr beeindruckend! Das muss heutzutage als Frau ganz schwer sein. Was treibt Sie denn genau heute nach Kiel-Gaarden, alte Kollegen besuchen oder die Eltern mit der Schwester?“
„Ich möchte,- nein ich muss zu meinen Eltern.“
Eleonore war beeindruckt, dass Herr Gronau ihr genau zugehört hatte und sagte weiter:
„Leider habe ich mich vorhin mit meiner Mutter am Telefon gestritten und hoffe, das nun wieder ausbügeln zu können.“
„Das kenne ich! Schon oft gab es mit meinen Eltern Streit, den ich dann vor Ort wieder begradigen musste. Worum ging es denn in dem Streit? Manchmal ist es besser, erst etwas Gras darüber wachsen zu lassen und sich für eine Zeit nicht sehen zu lassen“, sagte er und stellte aber sofort fest: „Nein, entschuldigen Sie, das geht mich ja gar nichts an. Ich wollte nicht neugierig sein.“
„Ach, nein, Sie sind nicht neugierig. Es tut ja auch gut, seinen Kummer einmal verbal loszuwerden“, antwortete Eleonore spontan. „Zuerst wollte ich meine Eltern aus lauter Ärger auch nicht besuchen, dann aber hatte ich Mitleid mit meiner kleinen Schwester, die sich immer so freut, wenn ich komme.“
Eleonore verharrte kurz. Wieso war sie diesem fremden Mann so offen gegenüber? Sicher interessierte ihn das alles gar nicht wirklich. Sie sagte:
„Entschuldigen Sie. Ich will Sie nicht belästigen mit so unwichtigen Dingen.“
„Nein“, antwortete Herr Gronau sofort. „Sie belästigen mich keineswegs, ehrlich.“
Er schaute sie dabei kurz an. Eleonore befürchtete zunächst, dass er sich über sie lustig machte, fühlte dann aber eine große Ehrlichkeit in seinem Blick und fuhr fort:
„Meine süße kleine Schwester vermisst mich sehr. Als ich noch in Gaarden arbeitete, habe ich sie täglich besucht und mich viel um sie gekümmert. Wir lieben uns beide und sie braucht mich unbedingt. Ich muss sie jetzt einfach wiedersehen. Und dann ist es unerlässlich mit meiner Mutter zu reden. Außerdem hatte ich den Eindruck, als wollte sie mir irgendetwas Wichtiges am Telefon sagen, ich konnte es aber nicht verstehen, weil die Leitung unterbrochen wurde.“
Eleonore hielt kurz inne und sagte dann:
„Nach dem Telefonat ging es mir ähnlich wie Ihnen manchmal. Eine Art Intuition sagte mir: Fahre hin! Nur, es war kein Wink Gottes, sondern eher ein Wink meiner Gefühle oder meine innere Stimme befahl es mir“, erklärte Eleonore.
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