Andererseits gab es in diesem Ort zum Glück eine von der Schule in fünf Minuten Fußmarsch zur erreichende Haltestelle, Eleonore und Rusty konnten also gemütlich mit dem Bus fahren. Das Dorf war mit seinen 250 Einwohnern sehr klein. Dennoch gab es einen Marktplatz, der jeden Samstag mit bunten Ständen der Bauern aus der Umgebung besetzt wurde und viele Käufer anlockte.
Eleonore leinte Rusty an und ging mit ihm die kleine Anhöhe hinauf, hinter der die Bushaltestelle lag. Sie freute sich wie immer auf den Blick von der Spitze dieses Hügels, da man von dort das ganze Dorf überblicken konnte. Gerade waren sie oben angelangt, als sie von einem langsam fahrenden Auto überholt wurden. Da es im gesamten Dorf keine Wege für Fußgänger gab, mussten man immer auf der Straße gehen. Das war aber kein Problem, denn die wenigen Autos, die diesen Ort passierten, fuhren sehr langsam. Die Straße war aufgrund der Kriegsschäden noch in einem schlechten Zustand und ließ hohe Geschwindigkeiten zudem nicht zu.
Während Eleonore weiterging, überkam sie wieder die Erinnerung an die Flucht aus Gotenhafen. Wie sie jetzt ihren Rucksack bequem auf dem Rücken trug, waren ihre Gedanken bei Anna, die sie damals tagelang auf der Flucht im Arm hielt. Die Schwester auf dem Rücken zu tragen, wäre viel angenehmer gewesen. Das gab es doch nicht! Schon wieder holte sie die Vergangenheit ein! Zwar hatte ihr der Brief geholfen, diese Zeit besser zu sortieren, aber ob dieses ständige „Überrolltwerden“ von der Vergangenheit jemals aufhören würde? Konnte man nicht irgendwann einmal sorglos in der Gegenwart leben, ohne ständig den Ballast der Vergangenheit mit sich herumzuschleppen?
Eleonore versank trotz Widerwillen während des Gehens in die alten Zeiten. Die Bilder der Flucht zogen an ihr vorbei, die vielen Toten und die Menschen, die verzweifelt am Wegrand weinten, Kinder, die nach ihren Eltern schrien. Und dann die Kälte, die maßlose Kälte! Sie erinnerte sich an eine Frau, deren Baby gerade drei Tagen vor der Flucht an Mumps verstorben war. Diese Frau rettete Anna das Leben, indem sie sie stillte. Sie hatte es nicht mit ansehen können, wie schrecklich ausgemergelt und schwach die Kleine war und wollte nicht noch ein Baby sterben sehen. Anna hatte als Baby nicht mehr die Kraft zum Schreien. Dass die Frau soviel Mitleid trotz des eigenen großen Verlustes aufzubringen vermochte, war unfassbar. Man stelle sich vor, diese arme Frau trug noch Milch, die für ihr eigenes Baby bestimmt war. Und nun bekam ein völlig fremdes Kind diese Milch zum Überleben. Die Dankbarkeit gegenüber dieser unbekannten Frau würde Eleonore niemals im Leben vergessen. Bis nach Lübeck fuhren sie damals gemeinsam, dann verloren sie sich bei einem Bombenalarm aus den Augen.
Noch ganz in Gedanken war Eleonore mit Rusty an der Bushaltestelle des Ortes angelangt. Der Bus fuhr von hier täglich dreimal. Sie setzte sich auf die Bank bei der Haltestelle und wartete. Nach kurzer Zeit beobachtete Eleonore, wie ein junger Mann das Haus gegenüber verließ und in den auf der Auffahrt stehenden schwarzen Ford stieg. Sie kannte diesen Mann nicht, meinte aber doch, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben. In der Haustür stand ein älteres Ehepaar und winkte dem Fahrer zum Abschied zu. Der Wagen fuhr langsam an der Haltestelle vorbei und Eleonore sah, wie der Fahrer sie interessiert musterte. Sie verfolgte ihn mit den Augen. Plötzlich hielt der Wagen an, fuhr langsam rückwärts und hielt direkt neben ihr. Eleonore dachte, er hätte etwas vergessen und wäre deshalb zurückgefahren, aber er hatte bereits sein Fenster heruntergekurbelt und schaute sie erneut an. Breit grinsend fragte er:
„Hallo, wo wollen Sie denn hin?“
„Was geht Sie das an?“, konterte Eleonore empört und schlecht gelaunt. Das Grinsen des Fahrers empfand sie zusätzlich als Unverschämtheit und die Frage stand ihm als fremdem Menschen überhaupt nicht zu. Wo hatte dieser Lümmel denn Benehmen gelernt! Er hätte noch einmal zu ihr in die Schule gemusst, um richtiges Benehmen zu lernen. Unbeirrt von Eleonores pampiger Antwort, antwortete der Mann hinter dem Steuer:
„Eigentlich nichts, aber falls Sie vorhatten, mit dem Bus zu fahren, weiß ich zufällig, dass hier sonntags keiner fährt, nur wochentags hat man die Möglichkeit. Glauben Sie mir! Ich bin hier groß geworden und besuche regelmäßig meine Eltern. Sehen Sie?“
Er zeigte auf das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite und erklärte:
„Dort wohnen meine Eltern. Das ist mein Elternhaus, in dem ich 20 Jahre lebte.“
Eleonore schaute zu dem Haus hinüber und sah, wie das ältere Ehepaar noch an der Haustür stand und verwundert ihrem Sohn hinterherschaute. Er winkte den Eltern noch einmal zu. Eleonore nahm den immer noch amüsiert grinsenden Mann genauer ins Visier. Er war groß, blond, schlank, ein sehr gut aussehender Mann. Genauer gesagt, er sah verdammt gut aus, genau ihr Geschmack. Auf einmal kam ihr das Grinsen gar nicht mehr frech, sondern eher sympathisch vor und so antwortete sie etwas gezähmter:
„Ich wollte eigentlich nach Kiel, nach Kiel-Gaarden.“
Überrascht antwortete er:
„So ein Zufall. Ich fahre zufällig genau nach Kiel-Gaarden. Da kann ich Sie ja mitnehmen, wenn Sie so mutig sind, mit einem fremden Mann mitzufahren. Ich bin wahrscheinlich heute für Sie die letzte Chance, um nach Kiel zu kommen. Ansonsten müssten Sie zu Fuß gehen oder ein Fahrrad nehmen. Das sähe für Ihre Schüler sicher sehr vorbildlich aus, aber vielleicht möchten Sie mit mir Vorlieb nehmen und etwas weniger schweißtreibend nach Kiel gelangen?“
Eleonore blieb kurz die Luft weg vor so viel Selbstbewusstsein. Er schien sie als Lehrerin zu kennen. Vielleicht hatten seine Eltern bereits von ihr erzählt? Die Anwesenheit einer neuen Lehrerin in einem so kleinen Dorf sprach sich schnell herum. Eleonore dachte nur kurz nach und kam zu dem Entschluss, das Angebot anzunehmen. Sie wollte unbedingt nach Kiel, um endlich einmal und letztendlich Klartext mit ihren Eltern zu reden. Außerdem erinnerte sie sich jetzt, wo sie diesen Mann gesehen hatte. Ja, jetzt fiel es ihr ein: er hatte schon ab und zu auf dem Markt hinter dem Gemüsestand gestanden. Sein gutes Aussehen war ihr schon mehrfach aufgefallen, aber jetzt wirkte er noch viel attraktiver. Wahrscheinlich half er auf dem Markt manchmal seinen Eltern beim Verkauf.
„Okay, Sie haben mich überzeugt. Ich fahre mit“, gab sie ihm nun zu verstehen.
Erfreut sprang der Mann aus dem Auto, lief herum und öffnete die Beifahrertür, klappte die Lehne des Beifahrersitzes nach vorne und bat Rusty auf der Rücksitzbank, die mit einer Decke abgedeckt war, Platz zu nehmen. Rusty sprang ohne Zögern hinein und machte es sich bequem. Eleonore musste lachen. Jetzt klappte der gut aussehende Mann die Lehne wieder vorsichtig zurück, um Rusty nicht zu erschrecken, verbeugte sich vor Eleonore, schwang seinen Arm einladend Richtung Beifahrersitz und sagte gewandt zu ihr:
„Es ist mir eine Ehre, eine so hübsche Frau und dazu noch die Leiterin der Wittenberger Dorfschule zu befördern.“
Trotz dieses aufgeblasenen Komplimentes fühlte sie sich geschmeichelt, lachte und stieg beschwingt ein. Der Mann nahm ihr zuvor noch ihren Rucksack ab und legte ihn auf den Rücksitz zu Rusty. Es war ein äußerst gepflegter Wagen mit herrlichen, weißen Ledersitzen. Das Lenkrad sowie alle Armaturen waren aus einem dunklen edlen Holz und es blitzte und glänzte alles im Auto. Auf Anhieb fühlte sie sich in dieser Luxuslimousine wohl. Der hübsche Mann eilte um das Auto, winkte seinen Eltern noch einmal zu, nahm auf dem Fahrersitz Platz und los ging es.
„Da habe ich ja Glück gehabt, dass Sie anhielten und mir trotz meiner etwas ungehaltenen Antwort anboten, mitzufahren“, begann Eleonore die Unterhaltung.
„Ja, und ich habe erst ein Glück, mit der Leiterin unserer Dorfschule persönlich fahren zu dürfen.“
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