Links und rechts befanden sich riesige Stützen in Form von Relief bedeckten Säulen. Jeweils sechs von ihnen befanden sich in zwei Dreierreihen im Abstand von einer Seillänge voneinander. Soweit ich das in der Dunkelheit erkennen konnte, zeigten sie Bilder aus dem Leben eines Naurim.
Ich vermutete, es war Attraval. Gerne hätte ich mir mehr davon angesehen, aber dazu fehlte mir leider die Zeit, und auch das Licht.
Auf einmal verlangsamte sich das Tempo der Anderen.
„Wir haben ein Problem“, hörte ich Droins leise Stimme. Ich stolperte praktisch darüber. Die Treppe verwandelte sich ohne Vorwarnung in eine Plattform, genau in der Mitte der Halle.
Oder zumindest in eine Halbe Plattform, denn der Rest fehlte – ebenso wie der Rest der Treppe nach unten.
Ich war so im Rhythmus der Stufen, dass ich stolperte, als ich auf die Plattform trat, weil ich nicht mit einer ebenen Fläche gerechnet hatte.
Jiang, Phyria und Anaya standen vorne an der Kante. Die Gefangene stand ziemlich genau in der Mitte der Plattform, weit weg von jedem Rand. Droin hatte sich hingekniet, um über den Rand nach unten zu sehen.
„Wir sind nicht die ersten hier“, flüsterte er leise.
Auf Grund meiner Größe konnte ich über ihn hinwegsehen, so dass es nur einen Augenblick dauerte, bis ich einen schwachen Lichtschein bemerkte, der aus einer Tunnelöffnung drang, dort wo sich das Ende der Treppe befunden haben musste.
„Wie sind die da runtergekommen?“, fragte Anaya kaum hörbar.
„Über die Treppe. Die Bruchkanten im Stein sind frisch. Hier liegt auch noch Steinstaub“, erwiderte Droin, der prüfend seine Fingerspitzen betrachtete.
„Jemand hat die Treppe zum Einsturz gebracht?“, wollte sich Phyria vergewissern.
„Genau.“
„Aber wie kommen die dann wieder hinaus.“
Phyrias Frage war in der Tat interessant.
„Natürlich gibt es noch einen anderen Eingang“, gab Jiang zurück.
„Sie wissen, dass die Armee von Kalteon die Lage von Attravals Grab kennt, und durch den Angriff des Drachen wissen sie auch, dass Kalteon sich darüber im Klaren ist, dass sie es genau darauf abgesehen haben. Die Zerstörung der Treppe soll mögliche Verfolger aufhalten.“
„Und das funktioniert auch ganz gut. Wir müssen Seile befestigen, Das geht nicht ohne Lärm.“
Droin hatte seinen Rucksack bereits abgelegt und zwei eiserne Haken, einen Hammer und ein aufgewickeltes Seil daraus genommen.
„Wir brauchen ein Stück Leder für die Kante, sonst scheuert das Seil durch.“
„Wenn Du die Haken einschlägst, wissen sie aber, dass wir kommen“, warf Anaya ein: „Und auch wo wir sind“, fügte sie hinzu.
„Jiang streckte eine Hand aus: „Gib mir die Haken.“
Droin tat wie geheißen.
Jiang ließ sich im Lotussitz nieder. Dann schob sie ihre Umhängetasche zur Seite. Vom Gürtel löste sie ein ledernes Etui, dass sie vor sich auf dem Boden platzierte. Aus ihrer Tasche holte sie eine kleine Holzkiste, die sie exakt zwei Fingerbreit vom Etui entfernt abstellte. Aus dem Etui fischte sie einen feinen Pinsel, während sie dem Kistchen ein Tintenfass entnahm. Beides wurde sorgfältig in Griffweite abgelegt. Schließlich positionierte sie Haken auf dem Kistchen, so dass beide Spitzen auf sie zeigten. Mit geübter Hand malte sie Schriftzeichen auf die Haken, obwohl sie in der perfekten Dunkelheit nichts davon sehen konnte.
„Drakk, sag mir wie die Zeichen aussehen.“
Während ich ihr beschrieb, was ich dank meiner Dunkelsicht erkennen konnte, legte sie Pinsel und Tintenfass zur Seite, ließ sich von Droin den Hammer geben, dessen Kopf sie ebenfalls mit Zeichen versah.
„Gut, jetzt wirst Du nur einen Schlag benötigen, um einen Haken in den Boden zu schlagen“ Verwisch die Zeichen nicht, sonst ruinierst Du alles.“
Doch der Hinweis war unnötig. Droin konnte im Dunkeln ebenso gut sehen, wie ich. Zudem war das einschlagen von Haken, Nägeln oder Keilen in Gestein beinahe eine alltägliche Arbeit.
Etwa vier Fuß vom Rand entfernt tastete Droin den Stein ab. Dann nahm er Maß und schlug die Haken nacheinander mit jeweils einem Schlag tief in den Felsen. Sie glitten hinein, als wäre es weicher Waldboden.
Trotzdem rollte der Klang der Schläge wie das Donnern eines Gewitters durch die Halle. Von allen Seiten wurde das Echo zurückgeworfen.
„Das werden sie trotzdem gehört haben“, bemerkte er unzufrieden.
„Dann beeilen wir uns eben“, befand Jiang, die ihre Sachen bereits wieder ordentlich verstaut hatte.
Droin knotete das Seil so, dass es an beiden Haken hing. Anaya tastete sich daran entlang nach vorne zum Rand, um dort einen Lederrest über die scharfe Kante zu legen.
„Wer geht zuerst?“, fragte sie.
„Ich“, erwiderte Droin und schwang sich ohne zu zögern über den Abgrund.
Anaya, Phyria und Jiang folgten, wobei sie Phyria in die Mitte nahmen, weil sie ein solches Wagnis im Dunklen nicht gewohnt war. Also blieb ich mit der Gefangenen alleine zurück.
„Ich werde Dich am Seil herunterlassen. Häng still und hample nicht herum, dann wird Dir nichts passieren.“
Sie hatte einen Schritt gemacht, und war verunsichert und verängstigt stehen geblieben. Erst da fiel mir wieder auf, dass sie ja nichts sehen konnte. Also beschrieb ich ihr kurz, was sie erwartete.
Sie zögerte, was ich ihr nicht verdenken konnte: mitten in einer stockfinsteren Halle zu stehen, auf einer kleinen Fläche an deren Rändern überall ein Abgrund lauerte.
„So lange Du nicht hin und her läufst, kann Dir nichts passieren“, erklärte ich ihr leise: „Falls Dir das zu unsicher ist, setzt Dich.“
Aus irgendeinem Grund half das im Dunklen oft. Sie zögerte einen Moment, blieb dann aber doch stehen und nickte.
- Was anderes blieb ihr auch kaum übrig.
Als das Seil aufhörte, sich zu bewegen, zog ich es nach oben.
Ich knotete am Ende ein paar doppelte Sitzschlaufen und einen Brustgurt.
„Das Seil hält Dich in einer sitzenden Position. Du musst nichts tun, nur schaukeln würde ich nicht.“
Dann führte ich sie bis unmittelbar zur Kante und half ihr, sich hinzusetzen, mit den Beinen über den Rand. An ihrer verkrampften Haltung konnte ich erkennen, dass sie wahnsinnige Angst hatte, aber zu stolz war, etwas dazu zu sagen. Verständlich, aber nicht zu ändern. Ich setzte mich hin, mit beiden Füßen an den Haken abgestützt. Meine Ausrüstung legte ich am anderen Ende der Plattform nieder. Dann schlang ich mir das Seil um die Hüfte und ergriff es anschließend mit beiden Händen.
„Lass Dich einfach zur Seite kippen, ich werde Dich nicht fallen lassen“ Dabei zog ich das Seil straff, so dass sie merkte, dass ich sie festhalten würde. Trotzdem dauerte es eine Weile, ehe sie den Mut dazu aufbrachte.
Sie war schwer, aber nicht übermäßig. Ich ließ das Seil in schnellen Zügen durch die Hände gleiten, bis das Gewicht plötzlich verschwand. Sie war unten angekommen. Als nächstes ließ ich die Rucksäcke und Taschen daran herunter. Ich befreite mich von dem Seil, trat zur Kante und glitt daran nach unten. Zwar hätte ich auch ein Tor öffnen können, aber ich wollte die Energie für später sparen.
Es dauerte trotzdem kaum mehr als zehn Herzschläge, ehe ich neben den anderen stand. Der Boden war übersät mit Trümmern von Treppe und Stützpfeilern.
Was ich nicht erwartet hatte, waren die gut zwanzig Leichen, die dazwischen lagen.
„Mit der Treppe abgestürzt“, bemerkte Droin, als ich mich daran machte, ein paar der Körper näher zu betrachten.
„Sieht so aus. Gut, ein paar weniger.“
„Es werden trotzdem noch genug sein“, erwiderte Jiang.
„Dann suchen wir mal.“
Ich half der Gefangenen um die Trümmer herum. Dabei war ich froh, dass sie nicht sehen konnte, was ich sah. Anaya und Jiang waren bereits zum Tunneleingang vorgegangen. Zwar konnten sie auch nichts sehen, aber sie hatten gelernt, sich einigermaßen im Dunkeln zu Recht zu finden. Jiang durch ihre Mystik, Anaya griff auf die Sinne von Tieren zurück. Hier unter der Erde vermutlich die von Fledermäusen.
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