„ Ehrwürdiger Herr ..., wenn Dir nun das Basis-Klare Licht erscheint, erkenne es als solches und verharre darin!“
Individuen, die während der weissen, roten und schwarzen Erscheinungen gemäss den Anweisungen ihres spirituellen Lehrers die Natur ihres Geistes als ursprüngliche Reinheit erkennen und ihr Bewusstsein aufrechterhalten können, fallen nicht in Bewusstlosigkeit, sondern vermögen das ‚Pfad-Klare Licht‘, das sie zu Lebzeiten eingeübt haben, mit dem Erscheinen des ‚Basis-Klaren Lichtes‘ – der ursprünglichen Reinheit selbst, die aufscheint, wenn sich alle Emotionen und Konzepte aufgelöst haben – zu vermischen. Wenn diese Vermischung stattfindet, ist das Individuum von begrenzten Geisteszuständen sowie von dem Automatismus, entsprechend seines individuellen Karma weiter blind in der bedingten Existenz von Samsara weiterwandern zu müssen, ‚befreit‘ (93).
So ersuche man spirituell höhergestellte Personen . Alle anderen Personen (94) soll man mit der folgenden Ansprache instruieren:
„ Oh Edler ... , Dein Geist ist jetzt solcherart beschaffen, dass Dir nun das Klare Licht des reinen ‚Wesens der Dinge‘( skrt: Dharmata; tib: chos nyid ) aufscheint; verweile in ihm und erkenne es als solches! Dein jetziges erkennendes Gewahrsein(95) ( tib: shes rig ) ist von der Natur dieses reinen Wesens( tib: sing nge ba ) , welches weder als Farbe, definierende Charakteristika noch Substanz existierend diese blosse Leerheit(96) ist; das reine Wesen ist der weibliche Urbuddha Samantabhadri( tib: kun tu bzang mo ) . Dein erkennendes Gewahrsein selbst, die Klarheit, die von der Natur der Leerheit ist, ist zur ungehinderten Vielfalt des nie endenden Gewahrseins – d.h. zur Leerheit selbst – geworden; dies ist das ‚reine Wesen‘( tib: sing nge ba ) , der männliche Urbuddha Samantabhadra( tib: kun tu bzang po ) , welcher im Reinen Land ‚Waléwa‘( tib: wal le ba ) weilt. Dein eigenes Bewusstsein( tib: rig pa ) , das von der Essenz der weder irgendwann einmal entstandenen(97) noch irgendwie als Substanz existierenden Leerheit ist, und Dein erkennendes Gewahrsein, das als Klarheit im Reinen Land ‚Waléwa‘ weilt, sind beide unveränderlich untrennbar, und sie sind der Dharmakaya der vollkommenen Erleuchtung. Dein eigenes Bewusstsein ist überdies die Untrennbarkeit von Leerheit und Klarheit, das sich im Grossen Strahlenden Licht verkörpert; diese Untrennbarkeit ist der ungeborene und unsterbliche Buddha des unveränderlichen Lichtes Amitabha. Dies zu erkennen ist genug. Die Natur Deines eigenen erkennenden Gewahrseins – dieses reine Wesen – als Buddha zu erkennen und jenen Buddha als das eigene Bewusstsein anzusehen ist das Ruhen in der Meditation des Buddha.“
Dies soll man drei oder sieben Mal mit deutlichen Worten und klarer Stimme rezitieren. Durch diese Worte wird sich der Sterbende zum einen an die Anweisungen seines Lama erinnern; ferner gelingt es ihm dadurch , seine eigene nackte ‚selbst-gewahre Eigenbewusstheit‘ ( tib: rang rig ) als Klares Licht zu identifizieren; zudem wird er – im Selbstgewahrsein verweilend – mit Gewissheit die Befreiung (98), die dauerhaft nicht vom Dharmakaya getrennt ist – erlangen. So wird der Sterbende bezüglich des ersten Klaren Lichtes instruiert.
Bei dem sog. ‚Pfad-Klaren Licht‘ handelt es sich um die absolute Wirklichkeit, um das innere Gewahrsein, das seit anfangslosen Zeiten in jedem Individuum vorhanden ist, ohne jemals von irgendeinem Wesen erschaffen worden zu sein, bzw. um die wahre Natur der Wirklichkeit – betreffe dies die äusserlichen Phänomene oder den eigenen Geist selbst – die jedes Individuum von Zeit zu Zeit (99) erlebt, ohne doch von ihr getrennt zu sein. ‚Buddha‘ kennzeichnet solche Individuen, die aufgrund immenser Übung geistiger Disziplin über unvorstellbar lange Zeiträume zu vollkommener Stabilität in der Erfahrung inneren Gewahrseins bzw. des ‚Basis-Klaren Lichtes‘ gefunden haben, so dass sie sämtliche irrigen Ansichten überwinden, die Befreiung von der samsarischen Existenz erlangen und schliesslich unzählige erleuchtete Qualitäten entwickeln konnten.
Die unterschiedlichen Ebenen buddhistischer Belehrungen (100) sowie die unterschiedlichen Terminologien, die in ihnen Verwendung finden, um diesen natürlichen Zustand des Seins zum Ausdruck zu bringen, unterscheiden sich einzig darin, wie direkt sie diesen Geisteszustand vermitteln; dennoch handelt es sich bei all diesen Begrifflichkeiten nur um unterschiedliche Umschreibungen des ‚Basis-Klaren Lichts‘.
Wie ist nun das ‚Pfad-Klare Licht‘ zu praktizieren? Um bestimmte Methoden anwenden zu können, die einem Zugang zum ‚Basis-Klaren Licht‘ verschaffen, muss man zunächst einen qualifizierten spirituellen Lehrer um Informationen darum bitten, wie man meditieren soll. Er wird einen auffordern, in einer bestimmten Weise zu meditieren : Wenn man auf das ‚Basis-Klare Licht‘ meditiert, soll man seinen Geist nicht auf einen bestimmten Bezugspunkt fixieren; weder soll man seine Aufmerksamkeit auf ein konkretes oder auf ein abstraktes Meditationsobjekt ausrichten noch irgendwelchen erinnerten Einsichten nachhängen; ‚Klarheit‘ bezieht sich in diesem Zusammenhang vielmehr darauf, dass man sich auf das ausrichtet, was tatsächlich gegeben bzw. natürlich gegenwärtig ist – der Praktizierende, der sich in der Bewusstheit des ‚Basis-Klaren Lichts‘ übt, bemüht sich mit einsgerichteter Konzentration , die Kontinuität seiner averbalen Achtsamkeit bzw. seines Gewahrseins aufrechtzuerhalten, ohne sich durch irgendwelche aufkommenden Worte und Gedanken erneut zur Fixierung auf jene mentalen Objekte verleiten zu lassen.
Üblicherweise neigt man dazu, über sämtliche neu gewonnen Einsichten sowie über die grundsätzlichsten buddhistischen Belehrungen wie etwa diejenige, dass alle Phänomene leer von jeglicher inhärenter (101) Wirklichkeit sind, nachzudenken – d.h. innerlich darüber Worte und Sätze zu bilden und auf eine konzeptuelle Ebene auszuweichen, statt achtsam in dem zu ruhen, was gerade ist. Man sollte sich jedoch davor hüten, intellektuelle Überzeugungen für eine tief in seinem Bewusstseinsstrom verankerte ‚Realisationen‘ zu halten; letztere kann einzig durch unbegriffliche Meditation verwirklicht werden. Und selbst wenn man sich bemüht, auf das zu meditieren, was unkonditioniert ist, ist der Ansatzpunkt zunächst ein konzeptueller: Man nimmt sich in Gedanken vor, seinen Geist bzw. sein Gewahrsein auf dasjenige auszurichten, was unbedingt ist; aber schon indem man seiner Achtsamkeit diese bewusste Vorgabe macht, engt man sein Gewahrsein wieder auf einen bestimmten Bezugspunkt ein, so dass es sich hierbei nicht um die Meditation auf das ‚Basis-Klare Licht‘ handeln kann. Stattdessen kann man sich nur in der Weise an das ‚Basis-Klare Licht‘ gewöhnen, indem man durch die entsprechenden Meditationen praktische Erfahrungen damit sammeln kann, was unter ‚Gewahrsein frei von mentalen Fabrikationen‘ zu verstehen ist.
Die absolute Wirklichkeit, die als Dharmakaya oder als ‚Klarheit des Dharmata‘ bezeichnet wird, kennzeichnet nichts anderes als den gegenwärtigen eigenen Geisteszustand, der nicht einmal für einen Augenblick abgelenkt und zerstreut ist, ohne sich auf irgendetwas auszurichten, zu konzentrieren oder zu meditieren (102). Der Begriff ‚Klarheit des Dharmata‘ kennzeichnet die ‚Soheit‘ (103), die leer von jeglicher ihr innewohnender wirklicher Substanz oder Essenz ist, aus der heraus sie zur Existenz gelangt wäre, und die in dieser ‚Leerheit‘ klar und erkennend ist. In dieser Hinsicht kann unser Geist mit dem offenen Raum verglichen werden, der – obschon nicht konkret oder dinglich existierend – offen und unbegrenzt ist und in dem alles entstehen kann. Es gilt, sich bereits zu Lebzeiten unbedingt an einen Geisteszustand zu gewöhnen, der diese unbegriffliche Offenheit (104) herzustellen und aufrechtzuerhalten vermag, solange er will; dann und nur dann wird es einem auch gelingen, seinen Geist zu kontrollieren, wenn jener – seiner Anbindung an einen Körper und dessen Sensorien beraubt – orientierungslos durch den Zwischenzustand des Todes taumelt, so dass ihm das Durchwandern der verschiedenen Stadien des Zwischenzustandes zwischen dem Sterben und der nächsten Existenz – d.i. der sog. Bardo des Todes – erspart bleibt.
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