Das sog. ‚Nirmanakaya-Phowa‘ besteht darin, ungetrübte Hingabe und ausserordentlich starkes Vertrauen zu seinem spirituellen Lehrer (53) und Mitgefühl gegenüber sämtlichen fühlenden Wesen zu entwickeln. Man lässt den Vorgang des eigenen Sterbens so weit gedeihen, bis die sog. weisse und rote Erfahrung stattgefunden hat – anderenfalls würde man durch das Praktizieren von Phowa das eigene Sterben vorwegnehmen und spirituellen Selbstmord begehen, der einen zwingend in die niedersten Bereiche der Existenz statt zur Befreiung führen würde. Sodann fokussiert man seine ganze Konzentrationsfähigkeit auf eine bestimmte Keimsilbe, die man – begleitet von einem bestimmten Ton – den Zentralkanal hinaufschiesst. Um Phowa erfolgreich zu praktizieren, bedarf es keiner grossen Verwirklichung und keiner hohen Stufe intellektueller Erkenntnis; es genügt, Hingabe und Mitgefühl zu entwickeln und die Keimsilbe zu visualisieren. Allerdings muss man dazu die mündlichen Belehrungen, die man von einem dazu authorisierten verwirklichten spirituellen Lehrer erhalten hat, in dessen Beisein solange üben, bis gewisse Zeichen (54) anzeigen, dass die Praxis des Phowa erfolgreich ausgeübt worden ist (55). Wenn dann die Zeit zu sterben gekommen ist, soll man sich weder durch Anhaftung noch durch Abneigung und Zorn ablenken lassen, sondern sein Bewusstsein wie ein geschickter Bogenschütze mit aller Kraft durch seinen Schädel hinaus in das Reine Land von Buddha Amitabha schiessen (56).
Während der laut vorzutragenden Rezitation dieses heiligen Textes ist es nicht angebracht, dass die Verwandten des Gestorbenen sowie Freunde, die ihm zugetan waren, in Tränen ausbrechen, weinen und wehklagen; sie sollten deshalb ausgeschlossen werden. Ist die Leiche anwesend, dann soll sein Lama oder ein Dharmabruder, dem er vertraute, oder ein anderer Praktizierender, dessen Geist mit seinem harmonierte, zu dem Zeitpunkt, an dem der äussere Atem zum Stillstand gekommen ist, mit den Lippen in der Nähe eines seiner Ohren weilend, ohne jenes zu berühren, diese ›Grosse Befreiung durch Hören‹ lesen.
Die angemessene Erläuterung jener ›Befreiung durch Hören‹
Zu Beginn soll man den Drei Juwelen (57) sehr umfangreiche Opferungen darbringen; ist nichts vorbereitet worden, sollte man nehmen, was immer zur Hand ist, und zusätzliche Opferungen visualisieren; mit dem Geist sind unermessliche Opferungen in der Vorstellung vorzunehmen.
Wenn man stirbt, ohne bereits Verwirklichung erlangt zu haben , ist man noch der Anhaftung an sein Haus, seinen Wohnort, seinen Besitz usw. ausgeliefert; diese Anhaftung an den Besitz, der im gerade vergangenen Leben angesammelt worden ist , ist das grösste Hindernis dafür, im Bardo Buddhaschaft erlangen zu können. ... Man kann der Anhaftung an seinen Besitz im Sterben dadurch am besten begegnen, indem man zu Beginn des Sterbens all seinen Besitz – all das Geld, die Grundstücke und andere Kostbarkeiten – entweder verschenkt oder einem Mandala opfert. Wenn man im Sterben das Mandala-Gebet rezitiert, in dem es heisst: „Indem ich diese Scheibe säubere, mit Blumen schmücke usw. ...“ und währenddessen all seinen Besitz opfert, wird man im weiteren Verlauf des Sterbens keine Anhaftung an den Besitz der vergehenden Existenz mehr haben. Es wird überdies empfohlen, in dieser Phase des Sterbens Bodhicitta zu entwickeln, indem man darüber nachdenkt, dass man das Los, den Leiden und Ängsten des Sterbens ausgeliefert zu sein, mit allen fühlenden Wesen teilt. ‚Deshalb ...‘, so sollte man am Beginn des Sterbeprozesses in Übereinstimmung mit dem Sieben-Punkte -Geistestraining denken, ... möchte ich jetzt mit meinen Leiden und meinen Ängsten während des Sterbens die Leiden und die Ängste aller fühlenden Wesen auf mich nehmen‘ (58).
Anschliessend soll man drei oder sieben Mal das Wunschgebet, das die Unterstützung der Buddhas und Bodhisattvas beim Sterbevorgang erfleht, rezitieren, woraufhin das Wunschgebet, das einen davor bewahrt, von den Erscheinungen des Bardo in Angst und Schrecken versetzt zu werden, das Wunschgebet, das einen bei der Gratwanderung durch den Bardo des Todes vor Gefahr bewahrt, sowie die Wurzelverse der Befreiung im Bardo einschliesslich der zu visualisierenden ‚Keimsilben‘ (59) am Ohr des Gestorbenen darzubringen sind. Sodann ist der Situation angemessen die ›Grosse Befreiung durch Hören‹ drei oder sieben Mal zu lesen; es ist in drei Teile untergliedert : 1) das Aufzeigen des Klaren Lichtes im Bardo des Sterbens; 2) das grosse Bittgebet, das Aufzeigen der Eindrücke , die der Verstorbene im Bardo des Todes erfährt ; und 3) die Belehrungen über die Methode, wie im ‚Bardo der Wiedergeburt‘ ( tib: srid pa‘i bar do ) der Eintritt in das Tor der Gebärmutter verhindert werden kann.
In Ost-Tibet war es Brauch, Verstorbenen während der sieben Wochen nach ihrem Tode diesen Text laut vorzulesen; zu diesem Zweck wurde zumeist ein Mönch ins Haus der Familie des Verstorbenen geladen, der die entsprechenden Opferungen vornahm und den Text jeden Tag langsam und laut verlas. Dadurch wurde dem Sterbenden definitiv geholfen (60).
Was erstens das Aufzeigen des Klaren Lichtes (61) ( tib: ‘od gsal ) im Bardo des Sterbens anbelangt, so wird dieser Text allen Arten von Individuen , d.h. solchen Personen, die über ein gutes intellektuelles Verständnis verfügen , ohne dieses Verständnis mit tatsächlicher Erkenntnis (62) durchdrungen zu haben, oder die zu einer solchen Erkenntnis vorgedrungen sind, sich allerdings nicht mit den einzelnen Schritten dieser Erkenntnis vertraut gemacht haben, oder gewöhnlichen Personen, die niemals Instruktionen erhalten haben, vorgetragen; durch das Aufzeigen des ‚Basis-Klaren Lichts‘ ( tib: gzhi‘i ‘od gsal ) werden jene den Bardo des Todes , der sich dadurch erschöpft, nicht erfahren und den ungeborenen Dharmakaya erlangen.
Was die Art und Weise der Präsentation anbelangt, so ist es am besten, wenn der Wurzellama, von dem der Sterbende selbst die entsprechenden Anweisungen erbeten hat, beim rituellen Verlesen des Textes anwesend sein kann. Kann jener nicht anwesend sein, sollte ein Dharmabruder bzw. eine Dharmaschwester , mit dem bzw. der er dieselben Gelübde hält , oder – falls ein solcher bzw. eine solche nicht zu finden ist – ein Lehrer (63) aus derselben Übertragungslinie ( tib: chos rgyud ), oder – falls keiner von diesen gefunden werden kann – jemand, der die Buchstaben dieses Textes mit klarer Stimme vorlesen kann , dessen Worte deutlich aussprechen kann und der über die Kenntnis des Textes verfügt, diesen mehrmals vorlesen. Dadurch wird sich der Sterbende an die Bedeutung der Anweisungen seines Lama erinnern und unzweifelhaft unmittelbar daraufhin das ‚Basis-Klare Licht‘ jener Anweisungen erkennen und zur Befreiung gelangen.
Was den Zeitpunkt der Präsentation dieses Textes anbelangt: Indem die äussere Atmung zum Stillstand kommt, lösen sich die feinstofflichen Winde ( tib: rlung; skrt: Prana ) in das ‚Chakra der Weisheit‘ (64) ( tib: ye shes kyi dhu t‘i ) hinein auf, und durch diesen ‚ausserordentlichen Zustand, in dem sämtliche geistigen Aktivitäten vollkommen zum Erliegen gekommen sind‘ ( tib: spros bral ), scheint das Klare Licht der Erkenntnis auf (65). Wenn sich daraufhin die Winde umkehren und in den rechten und linken Seiten kanal (66) entweichen, kommt es dadurch zum Pfad der Erscheinungen des Bardo des Todes ; deshalb sollte die Präsentation des ersten Teiles dieses Textes vorgenommen werden, solange die Winde noch nicht in den linken und rechten Seiten -Kanal eingetreten sind. Der Zeitraum des Verweilens des inneren Atems entspricht lediglich der Dauer der Einnahme einer Mahlzeit.
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