Stefan Zweig - Die Heilung durch den Geist - Sigmund Freud

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Hier beschreibt ein ganz Großer einen ganz Großen: Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig, der mit seinen Büchern weltweit ein Millionenpublikum erreicht, portraitiert Sigmund Freud, welcher mit seinem Gedankengebäude der Psychoanalyse nicht nur die Psychologie verändert hat.

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Stefan Zweig

Die Heilung durch den Geist: Sigmund Freud

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Inhaltsverzeichnis Titel Stefan Zweig Die Heilung durch den Geist Sigmund - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Stefan Zweig Die Heilung durch den Geist: Sigmund Freud Dieses ebook wurde erstellt bei

Situation der Jahrhundertwende

Charakterbildnis

Der Ausgang

Die Welt des Unbewußten

Traumdeutung

Die Technik der Psychoanalyse

Die Welt des Sexus

Abendlicher Blick ins Weite

Geltung in die Zeit

Impressum neobooks

Situation der Jahrhundertwende

Wenn sich das geheime Spiel der Begehrungskraft bei dem matteren Licht gewöhnlicher Affekte versteckt, so wird es im Zustand gewaltsamer Leidenschaft desto hervorspringender, kolossalischer, lauter: der feinere Menschenforscher, welcher weiß, wie viel man auf die Mechanik der gewöhnlichen Willensfreiheit eigentlich rechnen darf und wie weit es erlaubt ist, analogisch zu schließen, wird manche Erfahrung aus diesem Gebiet in seine Seelenlehre hinübertragen und für das sittliche Leben verarbeiten ... Stünde einmal wie für die übrigen Reiche der Natur ein Linnäus auf, welcher nach Trieben und Neigungen klassifizierte, wie sehr würde man erstaunen ...

Schiller

Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? Das wurde für mich immer mehr der eigentliche Wertmesser. Irrtum (– der Glaube ans Ideal –) ist nicht Blindheit, Irrtum ist Feigheit ... Jede Errungenschaft, jeder Schritt vorwärts in der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich.

Nietzsche

Das sicherste Maß jeder Kraft ist der Widerstand, den sie überwindet. So wird die umstürzende und wiederaufbauende Tat Sigmund Freuds erst voll erkenntlich in ihrer Gegenstellung zur seelischen Situation der Vorkriegsanschauung – oder vielmehr Nichtanschauung – der menschlichen Triebwelt. Heute zirkulieren längst Freudische Gedanken – vor zwanzig Jahren noch Blasphemie und Ketzerei – völlig flüssig im Blut der Zeit und der Sprache; dermaßen selbstverständlich erscheinen die von ihm geprägten Formeln, daß es eigentlich größerer Anstrengung bedarf, sie wieder wegzudenken als sie mitzudenken. Gerade also weil unser zwanzigstes Jahrhundert nicht mehr begreifen kann, weshalb das neunzehnte sich so erbittert gegen die längst fällige Aufdeckung der seelischen Triebkräfte wehrte, tut es not, die Einstellung jener Generation in psychologischen Dingen zurückzubelichten und die lächerliche Mumie der Vorkriegssittlichkeit noch einmal aus ihrem Sarge zu holen.

Mit der Verachtung jener Moral – unsere Jugend hat zu heftig an ihr gelitten, als daß wir sie nicht inbrünstig haßten! – sei an sich nichts gegen den Begriff der Moral und seiner Notwendigkeit gesagt. Jede Menschengemeinschaft, ob religiös oder volkshaft verbunden, sieht sich um ihrer Selbstbehauptung willen gezwungen, die aggressiven, die sexuellen, die anarchischen Tendenzen des einzelnen zurückzudrängen, sie abzustauen und überzuführen hinter jene Dämme, die man Sitte und Satzung nennt. Selbstverständlich auch, daß jede dieser Gruppen sich besondere Normen und Formen der Sitte schafft: von der Urhorde bis zum elektrischen Jahrhundert hat jede Gemeinschaft sich um die Rückdrängung der Ur-Instinkte mit andersartigen Methoden gemüht. Harte Zivilisationen übten harte Gewalt: die lazedämonische, die urjüdische, die kalvinistische, die puritanische Epoche suchen den panischen Lustwillen der Menschheit mit dem roten Eisen auszubrennen. Aber grausam in ihren Geboten und Verboten, dienten solche drakonische Zeitläufte immerhin noch der Logik einer Idee. Und jede Idee, jeder Glaube heiligt bis zu einem gewissen Grade die für ihn eingesetzte Gewalt. Wenn das Spartanertum Zucht bis zur Unmenschlichkeit fordert, geschieht es im Sinne der Züchtung der Rasse, eines männlichen, kriegstüchtigen Geschlechts: seinem Ideal der Polis, der Gemeinschaft, mußte freischweifende Sinnlichkeit als Kraftdiebstahl am Staate gelten. Das Christentum wiederum bekämpft die fleischliche Neigung des Menschen um der Vergeistigung, um der Seelenrettung der allzeit irrenden Natur willen. Gerade weil die Kirche, weiseste Psychologin, die Blutleidenschaft des ewig adamitischen Menschen kennt, setzt sie ihr Geistleidenschaft als Ideal gewalttätig entgegen; in Scheiterhaufen und Kerkern zerstört sie den Hochmut des Eigenwillens, um der Seele in ihre höhere Heimat zurückzuhelfen – harte Logik dies, aber Logik immerhin. Hier und überall entwächst Handhabung des moralischen Gesetzes noch dem Stamm einer gefestigten Weltanschauung. Sittlichkeit erscheint als sinnliche Form einer übersinnlichen Idee.

In wessen Namen aber, im Dienste welcher Idee fordert das längst nur noch scheinfromme neunzehnte Jahrhundert überhaupt noch eine kodifizierte Sittlichkeit? Selber genießerisch, grob materiell und geldverdienerisch, ohne einen Schatten der großen geschlossenen Gläubigkeit früherer frommer Jahrhunderte, Anwalt der Demokratie und der Menschenrechte, kann es seinen Bürgern das Recht auf freien Genuß gar nicht mehr ernsthaft verbieten wollen. Wer einmal Toleranz als Flagge auf dem First der Kultur gehißt, besitzt kein Herrenrecht mehr, sich in die Moralauffassung des Individuums einzumengen. In der Tat bemüht sich auch der neuzeitliche Staat bei seinen Untertanen keineswegs mehr um eine ehrliche innerliche Versittlichung wie einstens die Kirche; einzig das Gesellschaftsgesetz verlangt die Aufrechterhaltung einer äußern Konvention. Nicht ein wirklicher Moralismus also wird gefordert, ein Sittlichsein, sondern bloß ein Sichmoralischverhalten, ein Tun aller vor allen »als ob«. Inwieweit der einzelne dann wirklich sittlich handelt, bleibt seine Privatangelegenheit: er darf sich nur nicht bei einem Verstoß gegen die Schicklichkeit ertappen lassen. Es mag allerhand, sogar sehr viel geschehen, aber es darf nicht davon gesprochen werden. In strengem Sinn kann man also sagen: die Sittlichkeit des neunzehnten Jahrhunderts geht an das eigentliche Problem gar nicht heran. Sie weicht ihm aus und beschränkt ihren ganzen Kraftaufwand auf dieses Darüberhinwegsehn. Einzig mit diesem törichten Unvernunftsschluß, wenn man etwas verdecke, sei es nicht mehr vorhanden, hat sich die Zivilisationsmoral durch drei oder vier Generationen allen Sitten- und Sexualproblemen gegenübergestellt oder vielmehr entzogen. Und das grimmige Scherzwort erhellt am sinnlichsten die tatsächliche Situation: nicht Kant habe sittlich das neunzehnte Jahrhundert beherrscht, sondern der »cant«.

Wie aber konnte ein so hellsichtiges, vernünftiges Zeitalter sich in eine derart unwahrhaftige und unhaltbare Psychologie verirren? Wie ein Jahrhundert der großen Entdeckungen, der technischen Vollendungen seine Moral zu einem dermaßen durchsichtigen Taschenspielertrick herabwürdigen? Die Antwort ist einfach: eben aus diesem Stolz auf seine Vernunft. Eben aus dem Hochmut seiner Kultur, aus jenem überspannten Zivilisationsoptimismus. Durch die ungeahnten Fortschritte seiner Wissenschaft war das neunzehnte Jahrhundert in eine Art Vernunftrausch geraten. Alles schien sich ja dem Imperium des Intellekts sklavisch zu unterwerfen. Jeder Tag, jede Weltstunde meldete neue Siege der Geisteswissenschaften; immer neue widerspenstige Elemente des irdischen Raums und der Zeit wurden gebändigt, Höhen und Tiefen öffneten ihr Geheimnis der planhaften Neugier des bewaffneten Menschenblicks, überall wich die Anarchie der Organisation, das Chaos dem Willen rechnerischen Geistes. Sollte da die irdische Vernunft wirklich nicht imstande sein, der anarchischen Instinkte im eigenen Blut Herr zu werden, das zuchtlose Gesindel der Triebe leichthin zu Paaren zu treiben? Die Hauptarbeit in dieser Hinsicht sei ja längst geleistet, und was noch ab und zu dem modernen, dem »gebildeten« Menschen im Blute flamme, das wären nichts als matte kraftlose Blitze eines abziehenden Gewitters, verendende Zuckungen der alten, schon im Absterben befindlichen Tierbestialität. Aber nur ein paar Jahre noch, ein paar Jahrzehnte, und eine Menschheit, die vom Kannibalismus bis zur Humanität und zum sozialen Gefühl sich so herrlich emporerzogen, werde auch noch diese letzten trüben Schlacken in ihren ethischen Feuern läutern und aufzehren: darum tue es gar nicht not, ihre Existenz überhaupt zu erwähnen. Nur nicht die Menschen auf das Geschlechtliche aufmerksam machen, und sie werden vergessen. Nur die uralte, hinter den Eisenstäben der Sitte eingekerkerte Bestie nicht mit Reden reizen, nicht mit Fragen füttern, und sie wird schon zahm werden. Nur rasch, mit abgewendetem Blick überall an allem Peinlichen vorübergehen, immer so tun, als ob nichts vorhanden wäre: das ist das ganze Sittlichkeitsgesetz des neunzehnten Jahrhunderts.

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