Der Körper sämtlicher Lebewesen ist durch bestimmte Ursachen und sekundäre Bedingungen erzeugt worden; diese sind der weisse Tropfen bzw. die reine Essenz der Samenflüssigkeit vom Vater, der rote Tropfen bzw. die reine Essenz des mütterlichen Eies von der Mutter und das Bewusstsein des Zwischenzustandswesens . Parallel zur Wirbelsäule verläuft der feinstoffliche Zentralkanal ( skrt: Avadhuti ), dessen oberes Ende der weisse Tropfen, den man ursprünglich vom Vater erhielt (67), bildet, und in dessen unterem Teil dort, wo der Zentralkanal mit den unteren Enden der beiden Seitenkanäle zusammentrifft (68) der rote feinstoffliche Tropfen, den man ursprünglich von der Mutter erhielt, verweilt; dieser Tropfen ist von flammenförmiger Gestalt. Zwischen diesen beiden Tropfen fliesst der sog. lebenserhaltende Wind, der verhindert, dass diese beiden Elemente ineinanderstürzen. Wenn der letzte Atemzug getan ist, kommt der lebenserhaltende Wind im Zentralkanal zum Erliegen, und der weisse und der rote Tropfen treffen sich im Herzen (69).
Was die Art und Weise der Präsentation anbelangt: Wenn die äussere Atmung am Erlöschen ist, sollte vom Sterbenden die Praxis des Phowa (70) bis zum Äussersten angewendet werden; wenn Phowa nicht erfolgreich praktiziert wurde, sollten diese Worte gesprochen werden:
„ Höre, Sohn bzw. Tochter edler Herkunft(71) mit diesem und jenem Namen, weil es nun an der Zeit ist, dass Du Dir einen Weg suchst, und Dein Atem am Versiegen ist, wird Dir jenes, was als das Klare Licht des ersten Zwischenzustandes bezeichnet wird und dessen Bedeutung Dein Lama Dir zuvor aufgezeigt hat, erscheinen; dann wird Dein äusserer Atem versiegen, und weil Deine Bewusstheit( tib: rig pa ) nun alle Phänomene als nackt und leer wie der offene Himmel, als Klarheit und Leerheit untrennbar, ohne jedes Zentrum und jede Begrenzung wahrnimmt, scheint blosse Nichtsheit auf; komme nun her! Erkenne dies zu jenem Zeitpunkt und konzentriere Dich in Deinem Innersten auf jene Erkenntnis! Ich werde Dich nun auch anleiten, wie Du Dich weiterhin verhalten solltest.“
Wer immer zu Lebzeiten von seinem spirituellen Lehrer ‚Instruktionen, die die wahre Natur des Geistes aufzeigen‘ ( tib: ngos sprod kyi gdams pa ) erhalten hat und daraufhin fähig war, sich mit der wahren Natur seines Geistes – dem sog. ‚Pfad-Klaren Licht‘ – vertraut zu machen, wird in diesem Stadium des Sterbens dazu in der Lage sein, die Kontinuität des Zustandes geistiger Klarheit aufrechtzuerhalten und die Befreiung zu realisieren, indem er im sog. ‚Basis-Klaren Licht‘, das klar und offen wie der wolkenlose Himmel ist und das ihm den Zugang zur ursprünglichen Weisheit, die jenseits jeden Intellekts ist, ermöglicht und die identisch mit dem Dharmakaya ist, verweilt. Im System der Nyingmapa wird das ‚Basis-Klare Licht‘ als ‚Samantabhadra in Vereinigung mit seiner Gefährtin Samantabhadri‘ bezeichnet, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass diese Einheit von Leerheit und erkennender Klarheit, die in ihrer Essenz von ursprünglicher Reinheit ist, keinerlei konkrete Existenz besitzt. Im Mahamudra-System der Kagyüpa wird dieser Zustand als ‚Erkenntnis bar jeder gedanklichen Tätigkeit‘ bezeichnet. Vornehmlich aus dem Grund sollte man zu Lebzeiten den Dharma praktizieren, damit es einem im Verlauf des Bardo des Sterbens dann, wenn für einen Augenblick sämtliche durch irgendwelche Wahrnehmungen hervorgerufenen störenden Gefühle vollends weggewischt sind, gelingt, die Befreiung zu verwirklichen; nun hat das eigene Gewahrsein die Gelegenheit, unabhängig von irgendwelchen Fixierungen auf bestimmte Wahrnehmungsobjekte oder Erinnerungen nackt in sich selbst zu ruhen bzw. die einem selbst innewohnende Achtsamkeit direkt zu erfahren; dies wird als ‚selbstgewahre Selbstbefreiung‘ bezeichnet (72).
Indem man diese Erklärung solange, bis der äussere Atem versiegt, viele Male in sein Ohr spricht, soll man dies seinem Geist einprägen. Wenn sich daraufhin der äussere Atem im Prozess des Versiegens befindet, soll man den Sterbenden mit seiner rechten Seite auf den Boden legen (73) und ihn die sog. ‚Löwenhaltung‘ (74) einnehmen lassen; dadurch wird die Zirkulation ( tib: rba rlabs ) im Zentralkanal gehemmt.
Die Löwenhaltung wird an anderer Stelle davon abweichend definiert: Indem man beide Daumennägel jeweils an die Innenseite des unteren Gliedes des Ringfingers drückt und die linke Hand auf den linken Oberschenkel legt, während man die rechte Hand unter sein Kinn legt, übt man einen vorteilhaften Effekt auf die subtilen Energiebahnen des Körpers aus, der es einem erleichtert, das ‚Pfad-Klare Licht‘ während des Sterbeprozesses zu erkennen und entsprechend zu meditieren; ... zu jenem Zeitpunkt muss der Sterbende, wenn er aus dem Automatismus des Sterbens ausscheren möchte, sich in einen Geisteszustand versetzen, der ‚leer‘ (75) und gleichzeitig erkennend ist – dies ist das sog. ‚Pfad-Klare Licht‘; wer während des Sterbens in ihm zu ruhen vermag, wird automatisch befreit, wenn das ‚Basis-Klare Licht‘ aufscheint (76).
Indem nun die Aktivität in den beiden feinstofflichen Kanälen, die den Schlaf bewirken (77) , zunächst zunimmt und dann versiegt, presst man jene mit grosser Kraft, damit der feinstoffliche Wind, der in den Zentralkanal eingetreten ist, am Zurückfliessen gehindert wird und mit Gewissheit durch das Kronenchakra ( tib: tshangs bug ) austreten kann (78). Auch unterdessen wird mit dem Verlesen des Textes fortgefahren. Zu diesem Zeitpunkt scheint im Bewusstseinskontinuum sämtlicher Wesen eine unverfälschte Erscheinung auf, welche eine Reflektion des Dharmakaya ist, die auch das Klare Licht des ersten Bardo des Sterbens genannt wird. Zwischen dem Erlöschen des äusseren Atems und dem Versiegen des inneren Atems (79) ist der feinstoffliche Wind in den Zentralkanal hineingeschmolzen; jener Zustand wird von gewöhnlichen Menschen (80) als Bewusstlosigkeit bzw. Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit bezeichnet, deren Dauer von Individuum zu Individuum in Abhängigkeit davon, ob ihre körperliche Verfassung gut oder schlecht war, sowie von dem Zustand ihrer Kanäle und Winde variiert; wer zu Lebzeiten die Shine-Meditation dauerhaft beherrschte und häufig die analytische Meditation ( tib: nyams len ) praktizierte, und wer in der Praxis mit den feinstofflichen Kanälen versiert war, verweilt für lange Zeit (81) in diesem Zustand.
Die eindringliche Präsentation dieses Textes muss ununterbrochen in einer klaren Weise fortgesetzt werden, bis aus einer der Körperöffnungen des Sterbenden (82) eine gelbliche Flüssigkeit austritt. Wer ein sehr schlechtes Leben geführt hat oder wessen feinstoffliche Kanäle in einem schlechten Zustand sind, für den hat diese Bewusstlosigkeit nicht einmal die Dauer eines Fingerschnippens, während sie bei anderen etwa die Dauer einer Mahlzeit in Anspruch nimmt. Üblicherweise ist in den Sutras und Tantras von einer Bewusstlosigkeit von dreieinhalb Tagen die Rede (83), und da sie in der Regel eine Dauer von dreieinhalb (84) Tagen aufweist, soll man mit dem Aufzeigen des Klaren Lichtes über diesen Zeitraum ernstlich fortfahren.
Was die Art und Weise der Präsentation anbelangt: Wer bereits zuvor (85) sein Bewusstsein aus eigener Kraft auszuschleudern vermochte, für den erübrigt sich das folgende ; wer dazu nicht in der Lage ist, in dessen unmittelbarer Nähe sollte sein Lama, ein anderer Schüler des eigenen Lama oder ein Dharmabruder bzw. eine Dharmaschwester , der/ die dem Sterbenden sehr nahe standen, verweilen und ihm folgendes verlesen :
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