Der Tod ist zwar unausweichlich, aber er wird nicht schmerzlos sein, so wie das irreführende veranschaulichende Beispiel des Verlöschens einer Flamme durch einen Windstoss oder einen Regenguss dies fälschlicherweise nahelegt; den wenigsten – sogar wenn sie die buddhistische Lehre ernsthaft praktiziert haben und dadurch gelernt haben sollten, ihren Geist zu kontrollieren – ist es vergönnt, in grossem Frieden und glücklich zu sterben. Deshalb sollte – wer immer diese Möglichkeit besitzt – sich bereits zu Lebzeiten auf die enormen Schwierigkeiten, die Schmerzen und die Ängste vorbereiten, denen man zu dieser Stunde unausweichlich ausgesetzt sein wird (40).
Da Zeitpunkt und Ursache des eigenen Todes vollkommen im Ungewissen liegen und man nicht einmal mit Sicherheit davon ausgehen kann, den nächsten Tag oder die nächste Woche zu erleben, sollte man überall, wo man sich aufhält, und unter allen Umständen folgendermassen einsgerichtet über den eigenen Tod kontemplieren: Während man irgendeine unbedeutende Handlung ausübt, sollte man sich sagen: ‚Dies ist wohl die letzte Tat in meinem Leben!‘ und sich mit vollkommener Überzeugung darauf konzentrieren. Wohin immer man sich auch wendet, immer sollte man sich sagen: ‚Mag sein, dass ich sterbe, wenn ich dort angekommen bin! Es gibt keine Gewissheit, dass ich von dort zurückkehren werde!‘ Begibt man sich auf eine Reise, sollte man sich fragen: ‚Werde ich an meinem Bestimmungsort sterben?‘ Wo immer man sich aufhält, immer sollte man sich fragen, ob dies der Ort ist, an dem man sterben wird. Geht man zu Bett, sollte man sich fragen, ob man im Verlaufe dieser Nacht sterben wird, oder ob man den Morgen unbeschadet erleben wird. Erhebt man sich morgens vom Schlaf, dann sollte man sich fragen, ob man irgendwann im Verlaufe dieses Tages sterben wird, und so weiter und so fort. Wer auf diese Art die Todesgewissheit in sich verankert und so zur Überzeugung gelangt, dass er – was die Vorbereitung auf den eigenen Tod betrifft – keine Zeit zu verlieren hat, und daraufhin buddhistische Praxis in einer authentischen Weise ausübt, ohne je in Unachtsamkeit zu geraten oder aus einem achtsamen Geisteszustand wieder herauszufallen, der wird – wenn der Tod kommt – nicht unvorbereitet sein (41).
Keinesfalls sollte man sich jedoch darauf verlassen, dass der Ablauf des Sterbens bei jedem Individuum und unter allen Umständen starr nach dem im folgenden präsentierten Muster verlaufen muss: Zuweilen finden die verschiedenen Stadien der Auflösung der Elemente in einer vollkommen anderen Reihenfolge statt, oder ein Aspekt der Auflösung der Elemente steht sehr viel mehr im Vordergrund des subjektiven Erlebens des Sterbens und bzw. oder der äusseren Anzeichen des Sterbens als die anderen; die Stadien der Auflösung geschehen in Abhängigkeit von der körperlichen Konstitution des sterbenden Individuums, von der Beschaffenheit des feinstofflichen Energiesystems seiner Kanäle, Winde und Tropfen (42) sowie von den äusseren Umständen, die das Sterben begleiten oder hervorrufen. Auf jeden Fall ist es ausserordentlich vorteilhaft, die verschiedenen Stadien der Auflösung sowie die äusseren, inneren und geheimen Anzeichen, die mit jenen einhergehen, so gut zu kennen, dass man zu dem Zeitpunkt, an dem man damit konfrontiert sein wird, weiss, was zu tun ist (43).

Chenrezig, der Herr des Mitgefühls
Vor dem Lama, der die drei Verkörperungen des Dharmakaya-Buddha Amitabha ‚Grenzenloses Licht‘, des Samboghakaya der friedlichen und zornvollen Gottheiten der Lotus-Familie und des Nirmanakaya des Lotus-Geborenen( tib: Guru Rinpoche; skrt: Padmasambhava ) , in sich vereinigt, dem Beschützer der Lebewesen verbeuge ich mich.
Diese Praxis, die ‚Befreiung durch Hören‘ ( tib: thos grol ) genannt wird, ist eine Methode, die Praktizierende (44) von mittleren Fähigkeiten im ‚Zwischenzustand‘ (45) ( tib: bar do ) zur Befreiung zu führen (46) vermag; sie weist drei Abschnitte auf.
Der Bardo des Sterbens wird als schmerzhaft bezeichnet, weil dieser Prozess unweigerlich Schmerzen und leidhafte Zustände mit sich bringt. Selbst wenn der Prozess des Sterbens sehr schnell vonstatten gehen sollte oder das Sterben im Koma oder von einer Bewusstlosigkeit begleitet stattfinden sollte, erfährt der Geist des Sterbenden subtile – aber deshalb nicht minder peinigende – Schmerzen, wenn die Zirkulation des sog. lebenserhaltenden Windes im Zentralkanal unterbrochen wird. ... Wenn der geübte Praktizierende mit der überwältigenden Erfahrung der Agonie konfrontiert wird, macht er nichts anderes, als in die Essenz der schmerzhaften Erfahrung zu schauen; dadurch gelingt es ihm, der schmerzhaften Erfahrung standzuhalten und nicht von ihr überwältigt zu werden. Wenn der Sterbende zu Lebzeiten seinen Geist nicht in ausreichendem Masse durch Meditation stabilisieren konnte, sollte er sich während dieses Stadiums des Sterbens mit aller Kraft darauf konzentrieren, den schmerzhaften Erfahrungen nicht eine allesüberragende Bedeutung zuzuerkennen bzw. das eigene Gewahrsein nicht regelrecht von ihnen fortspülen zu lassen; stattdessen sollte er versuchen, den leeren und dennoch bewussten Geisteszustand aufrechtzuerhalten, bis das sog. ‚Basis-Klare Licht‘ bzw. das Klare Licht des Todes aufdämmert.
Sterben kann aus zwei Gründen einsetzen: 1) weil die Lebensspanne ausgelaufen ist, oder 2) weil bestimmte sekundäre Ursachen wie beispielsweise eine Erkrankung oder ein Unfall das Leben beenden (47).
Die vorbereitenden Übungen, die die Wesen zur Befreiung führen
Zu Anfang des Sterbeprozesses soll man den stufenweisen Weg praktizieren, der Praktizierende mit ausserordentlichen Fähigkeiten mit Gewissheit zur Befreiung führt. Sollte man durch jenen Weg keine Befreiung erlangen, soll man im sog. ‚Bardo des Sterbens‘ ( tib: chi kha’i bar do ) ‚Phowa‘ (48) ( tib: ’pho ba ) praktizieren, wodurch man , indem man sich die eigene Praxis des Phowa zu Lebzeiten vergegenwärtigt, spontan zur Befreiung gelangen wird ; durch jene Praxis sollten Praktizierende mit mittleren Fähigkeiten mit Gewissheit zur Befreiung gelangen. Wenn man jedoch durch jene Praxis keine Befreiung erlangt, sollte einem wenigstens diese ›Grosse Befreiung durch Hören‹ im Verlauf des siebenwöchigen ›Bardo des Todes‹ ( tib: chos nyid bar do ) ernstlich zu Gehör gebracht werden.
Zu diesem Zweck sollte der Praktizierende zunächst die Anzeichen des Sterbens gemäss dem Text ›Der klar reflektierende Spiegel der Symptome des Todes‹ (49) sorgfältig verfolgen; sobald die Anzeichen des Todes mit Gewissheit zur Gänze eingetreten sind, ist – indem man sich die eigene Praxis zu Lebzeiten vergegenwärtigt – Phowa zu praktizieren, das spontan zur Befreiung führt. Wenn durch Phowa das Bewusstsein hinausgeschleudert worden ist, ist es nicht mehr erforderlich, dass die ›Befreiung durch Hören‹ von einem Lama oder einem Dharmabruder bzw. einer Dharmaschwester (50) für den Verstorbenen gelesen werden muss; falls das Phowa jedoch nicht erfolgreich praktiziert worden ist, soll diese ›Befreiung durch Hören‹ mit klaren Worten und deutlicher Stimme nahe der Leiche gelesen werden. Wenn die Leiche nicht anwesend ist, soll der die ›Befreiung durch Hören‹ Vortragende sich zu der Stelle, an der zu Lebzeiten das Bett des Verstorbenen stand (51), begeben, und indem er das Bewusstsein des Verstorbenen herbeiruft, spricht er Worte, die die Kraft der Wahrheit besitzen (52), jenen unterdessen sich gegenüber als Zuhörer visualisierend.
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