Auch wenn die meisten Wesen nicht sterben wollen und sehr viele Menschen sich aus Angst vor dem Sterben nicht einmal gestatten, auch nur einen Gedanken darüber zu verlieren, steht der Prozess des Sterbens jedem Wesen bevor! Der Tod ist schon deshalb unvermeidlich, weil der Körper zusammengesetzt ist und somit wie alles Zusammengesetzte Gegenstand von Verfall und Desintegration ist. Jedem Wesen, das aus einer mütterlichen Gebärmutter geboren worden ist, steht gemäss seinem von ihm selbst in unendlichen Lebenszeiten angesammelten Karma ein kürzeres oder längeres Leben bevor – an dessen Ende steht unausweichlich der Tod. In diesem Sinne ist der Tod das charakterisierende Merkmal von allem Zusammengesetzten; er ist das Zeichen für Vergänglichkeit! Der historische Buddha hat gelehrt, dass alles Zusammengesetzte vergänglich ist (26). ‚Zusammengesetzt‘ bedeutet, dass ein Phänomen wie beispielsweise der menschliche Körper aus vielen kleineren Teilen (27) zusammengesetzt ist, die irgendwann einmal wieder auseinanderfallen werden. So unterliegt alles Zusammengesetzte der Vergänglichkeit (28).
Natürlich handelt es sich auch beim eigenen Körper um etwas ‚Zusammengesetztes‘, da dieser folgendermassen aus den fünf Elementen zusammengesetzt ist: Das sog. innere Erdelement von Haut, Fleisch und Knochen usw. – also alle festen körperlichen Bestandteile – entspricht dem äusseren Erdelement; die Körpertemperatur – also sämtliche Stoffwechselprozesse , bei denen Wärme frei wird – entspricht dem äusseren Feuerelement; Blut, Lymphe, Urin und andere Körperflüssigkeiten entsprechen dem äusseren Wasserelement; und der Atem entspricht dem äusseren Windelement (29).
Auch die einzelnen anatomisch/physiologischen Strukturen des Körpers wie sein Fleisch, das Blut usw. sind – obwohl die Worte und wissenschaftlichen Bezeichnungen, die ihnen zugeschrieben werden, diesen Eindruck vermitteln – keine ‚einzelnen Entitäten‘ (30), sondern sie bestehen aus einer Unzahl einzelner Muskelstränge und immer feineren Muskelfasern bzw. aus den einzelnen Bestandteilen des Blutes usw., die ihrerseits wiederum aus Molekülen, dann aus den Atomen und deren Bestandteilen bestehen, die sich selbst ad infinitum aus immer kleineren Partikeln zusammensetzen; deshalb existieren die verschiedenen Bausteine des Körpers, die die fünf Elemente repräsentieren, ‚lediglich‘ relativ bzw. in Abhängigkeit von den sie konstituierenden Bestandteilen und stellen also keine ‚singulären‘ Entitäten dar. Da die einzelnen Bestandteile des Körpers nur in Abhängigkeit von den sie konstituierenden Elementen existieren, unterliegt deren reibungsloses Zusammenspiel ebenfalls der Veränderung in der Zeit. Alles ‚Zusammengesetzte‘ – insbesondere lebende Organismen – fallen demzufolge nach einer gewissen Zeit wieder der Vergänglichkeit anheim. Wenn der Körper sämtlicher körperlicher Wesen, der als ‚Zusammengesetztes‘ aus den fünf Elementen besteht, zu irgendeinem Zeitpunkt unvermeidlich wieder der Desintegration anheimfallen wird, sterben die Wesen.
Im Sterben trennen sich Körper und Geist, und der aus Materie bestehende Körper zerfällt vollends. Der Geist, die Persönlichkeit bzw. die Entität, die den Erlebniskern oder die Psyche des Menschen ausmacht, wird im Buddhismus nicht als Entäusserung körperlicher Prozesse (31) aufgefasst, sondern beschreibt eine eigenständige geistige Dimension. Dementsprechend ist der Geist gemäss einer buddhistischen Auffassung in einem aktiven Sinne als aus einer endlosen Folge von Momenten der Bewusstheit bzw. des Gewahrseins zusammengesetzt ... und stellt ein Kontinuum einzelner Bewusstseinsmomente dar, die die aktiven Agenten sämtlicher bewusst erfahrener Eindrücke ausmachen. Unter geistigen Eindrücken ist in diesem Zusammenhang die Totalität der einem Individuum bewusst werdenden geistigen Inhalte zu verstehen. Geist stellt demzufolge die geistige bzw. bewusstseinsmässige Komponente einer jeden bewusst werdenden Erfahrung dar. ... Geist ist in diesem Sinne als die unsubstantielle, weder materielle noch in irgendeinem körperlichen Organ materiell verankerte, leuchtende, klare und deutliche Fähigkeit des Individuums definiert, wahrnehmen und verstehen zu können (32).
Darüber hinaus wird empfohlen, immer wieder über die Ungewissheit des Zeitpunktes des Todes nachzudenken. Der Todeszeitpunkt ist ungewiss, weil die Lebensspanne von Individuum zu Individuum schwankt, weil dem Körper keine ihn konstituierende solide Essenz innewohnt und weil es eine Vielzahl von Ursachen für den Tod gibt. Deshalb wird der Körper der Lebewesen mit einer Blase auf einem Wildwasser, die vom Wind hervorgerufen wurde, oder mit einer Kerzenflamme im Luftzug verglichen. Das Leben ist derart unbeständig, dass es ein unfassbares Wunder ist, dass man wieder einatmet, nachdem man ausgeatmet hat, und dass man wieder erfrischt vom Schlaf erwacht.
Der Körper, der nur unter grossen Schwierigkeiten vervollkommnet und anschliessend durch Nahrung und Kleidung am Leben erhalten werden konnte, der weder Krankheiten noch Hitze, weder Kälte, Hunger oder Durst ertragen kann, wird nach dem Tod von Vögeln und Hunden gefressen (33) oder den Flammen eines Feuers überantwortet (34), vom Wasser davongetragen (35) oder in einem tiefen Loch in der Erde vergraben (36).
Wann immer man dem Sterben anderer beiwohnt, vom Sterben anderer hört oder sich an das Sterben anderer erinnert, sollte man dies auf sich selbst anwenden und darüber kontemplieren, wie unbeständig und anfällig das eigene Leben ist. Da man von derselben Natur ist wie irgendein anderer Sterbender, der bislang voller Kraft und von guter körperlicher Verfassung war, sollte man sich klar machen, dass der Tod schon bald unvermittelt und ohne jede Ankündigung auch zu einem selbst kommen kann. Da man folglich nie sicher sein kann, ob man den nächsten Morgen noch erleben wird, sollte man sich nicht ausschliesslich um das ‚Morgen‘ sorgen, sondern den Belangen der nächsten Existenz mindestens die gleiche Bedeutung einräumen! Der Nutzen solcher Betrachtungen über die Vergänglichkeit und Sterblichkeit besteht darin, dass – indem man alles Zusammengesetzte als vergänglich erkennt – die Anhaftung an dieses Leben nachlässt; dies ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass man seine spirituellen Praktiken mit Hingabe und Ausdauer betreibt und so das Gewahrsein des eigenen Geistes von allen Hoffnungen und Befürchtungen bezüglich des zukünftigen Lebensunterhalts, des zukünftigen Wohlbefindens, zukünftigen Glücks und sozialen Status‘ abwendet, bis man schliesslich alle Erscheinungen als gleichwertig erkennt (37).
Die Belehrungen des sog. ‚Vajrayana‘ bzw. Diamantfahrzeugs werden deshalb als der geheime Pfad bezeichnet, weil sie ausserordentlich spezielle Methoden (38) beinhalten, die eine unmittelbar eintretende Erleuchtung ermöglichen. Diese Methoden sind so einfach, dass viele Menschen sie nicht glauben werden, und so tiefgründig, dass die meisten Menschen sie nicht erfassen können. Wenn einem zum Zeitpunkt des Sterbens die Gottheiten erscheinen, besteht die Möglichkeit, spontan und unmittelbar die Erleuchtung zu erlangen – wenn es einem gelingen sollte, das, was geschieht, direkt zu erkennen. Wer zu Lebzeiten sehr viel negatives Karma angesammelt hat, wird zum Zeitpunkt seines Sterbens kein Vertrauen in die Möglichkeit der Erleuchtung verspüren, und er wird durch das Gewicht seines schlechten Karma davon abgehalten werden, die Gottheiten als solche zu erkennen. Es ist ein grosser Fehler anzunehmen, dass man die Gottheiten des Bardo erkennen kann, ohne in diesem Leben grosse Anstrengungen unternommen zu haben; vielmehr ist es von grösster Bedeutung, jetzt – zu Lebzeiten – Verdienst anzusammeln und Hingabe gegenüber dem Buddha und seiner Lehre zu erzeugen; zusätzlich ist es unerlässlich, seine Meditation gut zu entwickeln und die Gottheiten so klar wie möglich zu visualisieren. Wer in dieser Lebenszeit solcherart positive Gewohnheitstendenzen in seinem Bewusstsein verankert, der kann im Bardo des Sterbens die Erleuchtung verwirklichen (39).
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