Tamm traf sich mit den beiden anderen noch auf einen Kaffee und bedankte sich ausdrücklich für ihre Mithilfe bei dieser spontanen Aktion. Er versprach beiden einen extra freien Tag, wenn alles vorbei war. Es war eine Eigenart von ihm, die sonst niemand anders in seinem Kollegenkreis teilte. Sie waren allesamt der Auffassung, dass die Mitarbeiter ja schließlich für ihre Aufgabenerfüllung bezahlt wurden, und das nicht einmal schlecht. Aber Tamm war das nicht genug, und die ausgeprägte Loyalität seiner Leute gab ihm eindeutig Recht. Nicht nur das, sie waren immer zur Stelle, wenn es darauf ankam.
Aber für heute hatten sie genug geleistet, und Tamm schickte beide nach Hause. Er selber blieb noch eine Weile sitzen und grübelte, um was es hier wohl gehen könnte. Wer oder was dahinter steckte. War dies wirklich real, war es eine Sensation, bei der er maßgeblich beteiligt war? Oder war das Ganze ein geschickt eingefädelter Schwindel, dem sie alle aufsaßen? Aber wer würde davon profitieren? Fragen über Fragen, und schließlich gab er auf. Der Tag war lang, und so ging er noch kurz in sein Büro zurück, um einen Blick in die Mailbox zu werfen. Das meiste war die übliche Routine, aber er fand auch eine Nachricht seiner Freundin. „Wir müssen reden“, stand in der Betreffzeile. Sein Magen verkrampfte sich. Er überlegte, ob er die Nachricht öffnen sollte. Wer weiß, welche Anschuldigungen jetzt wieder auf ihn warteten. Und das konnte er nun gar nicht gebrauchen nach einem solchen Tag. Aber er entschied sich für die Offensive und klickte die Zeile an. Als er den kurzen Text las, hörte er regelrecht den Stein plumpsen. Sie entschuldigte sich und wollte ihn heute noch sehen. Sie hätte überreagiert und wollte nun diese blöden Missverständnisse ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Er atmete hörbar auf, klappte den Laptop zu, schloss sein Büro ab und machte sich auf den Weg. Mit einer Flasche gutem Rotwein bewaffnet stand er kurze Zeit vor Ihrer Wohnungstür. Es wurde ein rundherum schöner Abend.
Julia stand vor ihrem Kleiderschrank und grübelte vor sich hin. Was um Gottes Willen sollte sie anziehen? Sie entschied sich, auch angesichts des schönen Wetters, für ein hellblaues, sportlich geschnittenes Kleid, das ihre schlanke Figur auf eine dezente Art betonte. Zusammen mit einer leichten Jacke und Schuhen mit recht flachen Absätzen fühlte sie sich schließlich gewappnet für den Abend mit einem Mann, denn sie einerseits kaum kannte, andererseits aber sowohl beruflich wie auch als Mensch unbedingt näher kennen lernen wollte.
Pünktlich um 19 Uhr stand sie vor dem Eingang und überlegte kurz, ob sie lieber draußen warten oder schon hinein gehen sollte. Aber die Entscheidung wurde ihr abgenommen: „Auf die Minute pünktlich“, hörte sie von hinten. Sie drehte sich um und blickte genau in die blauen Augen von Francois Delandre. Er hatte sich auch für die legere Art entschieden, eine helle Hose und ein grünes Leinenhemd. „Gehen wir hinein?“ forderte er sie auf.
„Guten Abend, Dr. Delandre. Ja, gern.“ Er hielt ihr galant die Tür auf und folgte ihr in das Restaurant. Als sie unschlüssig stehen blieb, schob er sich an ihr vorbei und ging zielstrebig auf einen Zweiertisch in einer Nische zu. „Ist Ihnen das so recht?“ fragte er mit einem Augenzwinkern. Julia war klar, dass sie diese rhetorische Frage nicht beantworten musste, und setzte sich auf den angebotenen Stuhl. Sie saßen kaum, als der Kellner kam und ihnen die Karte brachte.
Das Essen verlief mit belanglosem Smalltalk, in dem er sie nach ihrem Studium und dem Praktikum befragte, ohne in Details zu gehen. Sie erkundigte sich nach seinem Werdegang beim CERN und war mit seiner ebenfalls oberflächlichen Schilderung zufrieden. Als das Essen abgeräumt war, sah Julia lange in ihr Weinglas. Delandre beobachtet sie nur und blieb ebenfalls stumm. Schließlich brach sie das – nicht einmal unangenehme – Schweigen.
„Sie wollten mir doch vom CERN erzählen. Was die Einrichtung macht, wie sie entstanden ist und so.“
Delandre sah sie durchdingend an. „Stimmt, das hatte ich versprochen und das halte ich auch. Aber vorher finde ich, sollten wir noch einen Digestiv zusammen trinken. Was nehmen Sie?“
Julia war überrascht, aber irgendwie passte es auch zu seiner korrekten und höflichen Art. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, nehme ich einen Espresso. Sonst behalte ich nicht mehr, was Sie mir gleich erzählen sollen“, fügte sie lachend hinzu.
„Sie entscheiden, keine Frage.“ Er winkte dem Kellner und bestellte den Espresso für Julia und einen Grappa für sich. Als die Getränke gebracht wurden, hob er sein Glas. „Ich habe das Gefühl, dass unser Sie nicht passt. Am CERN ist ohnehin alles sehr kollegial, und daher möchte ich Sie ... Dich bitten, mich Francois zu nennen.“
Julia war nicht einmal überrascht. Nur hatte sie nicht damit gerechnet, dass es so schnell ging. Sie kannte das ja von Rolf Bartels und fast allen anderen Kollegen dort. „Klar. Ich heiße Julia. Auf unseren schönen Abend, Francois.“
„Auf den schönen Abend.“ Er setzte an, den Grappa zu trinken, roch aber dann erst ausgiebig, bevor er einen kleinen Schluck nahm. Es war ein sehr guter Chardonnay mit einem lang anhaltenden Aroma.
Julia nippte vorsichtig an ihrem sehr heißen Espresso. Sie liebte es, dieses starke und bittere Gebräu ohne Zucker zu trinken. Sie blickte noch einen Moment gedankenverloren in ihre leere Tasse und sah dann Francois direkt in die Augen. „Wie lange bist du eigentlich schon dabei? Und was reizt dich gerade am CERN?“
„Nächsten Monat werden es 24 Jahre,“ gab Francois zurück. „Tja, und was mich so fasziniert ...., ich fange am besten mal von vorn an. Du weißt vielleicht, dass es auf zwei Unesco-Konferenzen in 1952 zurückgeht, bei denen die Gründung des Zentrums beschlossen wurde. Das offizielle Gründungsjahr ist 1953. Bereits vier Jahre später, also 1957, wurde dann der erste Beschleuniger in Betrieb genommen. Er beschleunigte Protonen auf sage und schreibe 600 Mega-Elektronenvolt.“ Er grinste.
Julia überlegte kurz. Die Zahl hörte sich riesig groß an, und das war sie unbestritten auch. Aber die avisierten 13 TeV, von denen ihr Rolf Bartels erzählt hatte, waren das mehr als 20.000fache dessen! Dafür lag das aber auch mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, und wie Wissenschaft und Technik sich in dieser Zeit weiter entwickelt hatten, wusste sie nur zu gut.
Francois fuhr fort: „aber gerade einmal zwei Jahre später brachte es das Protonen-Synchroton auf 28 Giga-Elektronenvolt, also schon 50 mal so viel. Wahnsinn, wie schnell das damals schon ging, oder?“
Julia nickte nur und sah ihn interessiert an.
Francois erzählte ihr im Verlauf den nächsten Stunde von der weiteren Entwicklung, von den Nobelpreisträgern, die am CERN ihre grundlegenden Arbeiten gemacht hatten. Von den Beschleunigern, von denen einige schon nicht mehr in Betrieb waren, und den zahlreichen Experimenten zur Grundlagenforschung. Einiges davon kannte Julia schon, aber vieles war eben doch neu für sie.
Nach dem mittlerweile dritten Grappa und dem dann doch zweiten für Julia schloss er: „Und das alles hat mich schon als Junge begeistert. Aber ich war eine Niete in Naturwissenschaften, und so war es mir nicht vergönnt, selber mitzumischen. Dafür konnte ich schon immer gut Geschichten schreiben und Dinge in kurze, knappe Worte fassen, und so bin ich über Umwege in der Presseabteilung gelandet.“ Er machte eine Pause und blickte in sein leeres Glas, als ob die ganze Geschichte dort wie in einem Film noch einmal ablaufen würde. Dann sah er Julia an. „Tja, ich glaube, damit habe ich dir auch genug erzählt. Zumindest fällt mir für den Moment nichts mehr ein. Aber wenn du willst, ruf mich einfach an, wenn du noch was wissen willst. Meine Nummer findest du im elektronischen Telefonbuch.“
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