„Ich würde es gern tun, aber ich bin momentan genauso ratlos wie Sie. Aber bitte glauben Sie mir, wir gehen der Sache mit höchster Priorität nach.“
„Aber Sie müssen doch jetzt etwas tun!“
„Ja, das mache ich auch. Ich werde dafür sorgen, dass diese Wildschweine keinen weiteren Schaden mehr anrichten können. Und jetzt muss ich mich entschuldigen, ich will keine Zeit verlieren.“
Er verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und ging zu seinem Wagen zurück. Als er im Auto saß, atmete er ein paar Mal tief durch, bis sich sein Plus langsam wieder beruhigte. In was um alles in der Welt war er hier hinein geraten? Das hatte nichts, aber auch gar nichts mit all dem zu tun, was er in seinen fast dreißig Berufsjahren erlebt hatte. Er fuhr sich durch sein mittlerweile etwas spärliches Haar und kramte dann sein Handy aus der Jackentasche. Er wollte nicht warten, bis er wieder im Büro war. Wer weiß, was ihn dort alles erwartete. Die Nummer von Dr. Tamm hatte er eingespeichert. Er gehörte zu den Leuten, die sich kaum eine Zahl merken konnten außer dem eigenen Geburtstag.
„Ja, Tamm hier.“ meldete sich sein Gesprächspartner.
„Michels von der Kripo. Guten Morgen. Ich war letztens bei Ihnen wegen des ominösen Zahns. Vielleicht erinnern Sie sich.“
„Ja, natürlich. Was verschafft mir die erneute Ehre?“ wollte Andreas Tamm wissen. „Wir haben noch keine endgültigen Ergebnisse. Eine solche Sache dauert eben länger als ...“
„Entschuldigen Sie, dass ich unterbreche. Aber ich fürchte, ich kann noch einen draufsetzen. Wir haben offenbar nun auch den Besitzer des Zahns gefunden. Das Vieh treibt hier tot im Wasser. Und ein Hund, der es rausziehen wollte, spielte plötzlich verrückt, hat sein Herrchen gebissen und ist dann tot umgefallen. Und die Wildschweine sind auch nicht mehr die alten. Sie haben eben vor meinen Augen zwei Hunde angegriffen und vermutlich getötet. Ich brauche Antworten. Wann können wir uns treffen?“ Michels hatte sich in Rage geredet. Trotz seiner Routine war das doch zu viel neues, und er hatte nicht einmal den Schimmer einer Ahnung, mit was er es zu tun hatte.
Tamm brauchte einen Moment. „Äh, Herr Michels, Antworten. Ja, Antworten wollen wir beide. Wenn Sie wollen, kommen Sie direkt ins Labor. Sie wissen ja jetzt, wo das ist. Können Sie das Tier mitbringen?“
Michels dachte sich: klar, wenn jemand etwas mit dem Kadaver anfangen konnte, dann dieser Tamm. „Ja, ich werde alles Notwendige veranlassen. Machen Sie aber schon mal Platz, das Vieh ist schätzungsweise fünf Meter lang. Und den toten Hund bringe ich auch gleich mit.“
„Kein Problem. Aber ich bitte Sie inständig, es gut zu verpacken. Was ich am wenigsten brauchen kann, sind neugierige Journalisten, die nur heiß auf eine gute Story sind.“
„Ja ja, schon klar. Ich werde schon aufpassen.“ Er rief Dietmar Junghans an. „Du, wir haben das Tier, das zu dem Zahn gehört, gefunden. Bring ein paar Leute und einen Wagen mit, der groß genug ist, ein fünf Meter langes Krokodil zu transportieren.“ Er gab ihm noch ein paar Anweisungen und die Adresse des Instituts. „Und pass auf, dass es möglichst unauffällig aussieht. Ich fürchte, die Presse steht schon in den Startlöchern.“
Bei dem Stichwort fiel ihm ein, dass es wohl klug wäre, eine beschwichtigende Pressemitteilung zu verfassen, um diese Geier ruhig zu stellen. Er hatte auch schon eine Idee, wie: Ein Krokodil, das offenbar von seinem Privatbesitzer ausgebrochen war, hatte sich in den Flughafensee geflüchtet. Das Tier hatte ein paar Enten und Fischen sowie einen ahnungslosen Hund gefressen und war dann auf unerklärliche Weise verendet. Damit müssten sich auch eventuelle Augenzeugen ruhig stellen lassen. Er hatte allerdings leichte Zweifel, dass es erfolgreich sein würde, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
Er sinnierte eine Weile vor sich hin, bevor er losfuhr. Dann fielen ihm wieder die Wildschweine ein, und er wählte erneut die Nummer von Dietmar Junghans. Nach dem sechsten Ton ging der Anrufbeantworter an. Michels fluchte lautlos, besann sich dann aber und hinterließ den Auftrag, den hiesigen Förster oder Jäger zu informieren und die besessenen Schweine abschießen zu lassen, bevor noch mehr Schaden angerichtet würden. Und die erlegten Schweine seien Beweismaterial und demzufolge der Polizei zu übergeben. Die sie dann an Dr. Tamm zur Untersuchung gibt, fügte er gedanklich hinzu.
Nach einer weiteren kurzen Überlegung fiel ihm nun wirklich nichts mehr ein. Bis auf ein leckeres Frühstück, das er sich jetzt mehr als verdient hatte.
Nach ihrem ersten Gespräch mit Dr. Bartels hatte Julia ein komisches Gefühl. Er hatte ihr zwar sehr anschaulich erklärt, was sie wissen wollte. Aber irgendetwas machte ihm in dem Zusammenhang offenbar Sorgen, etwas hatte er ihr verschwiegen. Anfangs war er ihr eher zurückhaltend, ja fast schüchtern vorgekommen. Für eine lebhafte Frau wie Julia erfüllte er damit ihr Klischee, das sie von Genies hatte: äußerlich unscheinbar, mit ihrem Fachgebiet verheiratet und anderen Menschen gegenüber sehr zurückhaltend und bescheiden. Aber im Verlauf des Gespräches war er langsam aufgetaut. Sie hatten vereinbart, sich regelmäßig jeden Mittwoch um 9 Uhr zu treffen.
Das zweite Gespräch wäre fast ins Wasser gefallen, weil Rolf Bartels sich eine heftige Erkältung eingefangen hatte. Er war an dem Dienstag vorher nicht im Institut gewesen, rief aber Julia dann am frühen Abend noch an.
„Hallo Julia, hier ist Rolf.“
„Hi Rolf, wie geht’s dir denn?“ fragte Julia. Im Hintergrund hörte sie, wie er sich geräuschvoll die Nase putzte.
„Geht so langsam wieder. Heute wäre aber nichts mit mir losgewesen. Aber nach gefühlten zehn Litern Tee komme ich langsam wieder auf die Beine. Unser Treffen morgen findet also wie geplant statt.“
„Aber wenn es nicht geht, sag Bescheid und bleib noch einen Tag zuhause. Ich habe keine Lust, mich anstecken zu lassen. Und die anderen im Labor sicherlich auch nicht.“ Erst als sie das gesagt hatte, wurde ihr klar, dass das vielleicht nicht angemessen war. Schließlich war sie die neue Praktikantin und er ihr Betreuer. „Sorry, ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Schon gut. Du hast ja Recht. Aber jetzt werde ich mich ins Bett packen. Wir sehen uns dann morgen. Hoffentlich. Bis dann.“
„Mach´s gut und gute Besserung“, konnte Julia gerade noch sagen, bevor er aufgelegt hatte.
Julia überlegte kurz, was sie mit dem angefangenen Abend am besten anstellen könnte. Ein Blick aus dem Fenster zeigte tiefhängende Wolken, die schnell über den Himmel zogen. Also eher nicht nach draußen. Ein weiterer Blick in den Kühlschrank ließ sie befriedigt nicken. Eine Tiefkühl-Lasagne und ein Glas Rotwein ist ja auch nicht das Schlechteste. Einen Fernseher besaß sie nicht, und so klappte sie ihren Laptop auf. Keine neuen Mails, und auch auf Facebook war nichts los. Dann fiel ihr das erste Treffen mit Rolf ein, bei dem sie zuvor Dr. Delandre kennengelernt hatte. Naja, kennengelernt ist übertrieben, sie hatte ihn zufällig getroffen. Und er hatte sie ganz eigenartig angesehen. Sie gab den Namen ein und hoffte, mehr Informationen über ihn zu finden. Aber außer seinem Profil bei Facebook und der offiziellen Seite des CERN, auf der er als Pressesprecher vorgestellt wurde, war nichts zu finden. Sie beschloss, ihn selber anzusprechen. Sie musste nur einen Vorwand haben. Also weitersuchen, diesmal konkret über die Experimente vor zwei Jahren, Lichterscheinungen und Begegnung mit Außerirdischen.
Sie wurde tatsächlich fündig. Vor zwei Jahren gab es auf den ganzen Welt rätselhafte Lichterscheinungen, die sie an das erinnerte, was ihr Vater ihr vor Kurzem erzählt hatte. Dann war die Rede von unbekannten Tieren, über die aber nichts weiter beschrieben wurde, außer dass sie in Quarantäne genommen wurden. Ein Artikel aus einer Boulevardzeitschrift machte sie stutzig. Darin hieß es, dass ein kleiner Junge aus der Gegend einen Alien gesehen haben will und sogar mit ihm auf dessen Welt gereist und heile wiedergekommen sei. Aber der Autor ließ keinen Zweifel daran, was er von der Geschichte hielt. Zumindest las sie das aus seinem Schlusssatz heraus: Keiner will die Kompetenz der Wissenschaftler in Frage stellen, die diesem Jungen glauben, weil es keine stichhaltigen Gegenargumente gibt. Aber die Grenze zur Fantasie wurde bei dieser Geschichte offenbar überschritten.
Читать дальше