„Tja, die nächsten Wochen sind bei mir leider komplett verplant. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, können wir uns mittags in der Kantine treffen. Oder ...“ er zögerte, „ich lade Sie auf ein Abendessen ein und ich erzähle Ihnen das alles in Ruhe. Aber nur, wenn Sie wollen.“
Julia zögerte. Das war ihr nun doch zu schnell. Oder vielleicht nicht? Schließlich siegte ihre Offenheit. „Gern.“ Sie lächelte ihn an. „Wenn Sie das vorschlagen, kann ich doch gar nicht ablehnen.“
Sie glaubte kaum, was sie da eben gesagt hatte. Sie kannte den Mann doch gar nicht und sollte sich nun privat mit ihm treffen? War das vielleicht einer aus der Kategorie ... Sie verdrängte den Gedanken. Schließlich erhoffte sie sich Informationen, die sie weiter brachten. Und gegen ein Abendessen an einem neutralen Ort war schließlich nichts einzuwenden. Sie dachte unwillkürlich an ihren ersten Freund. Als sie gerade sechzehn war, hatte er sie schüchtern gefragt, ob er sie auf einen Hamburger einladen könne. Sie hatte sich so gefreut, dass sie ohne zu zögern zugesagt hatte. Der Abend wurde lang und zum Beginn ihrer ersten Beziehung. Sofern man das in dem Alter so nennen kann. Zwei Jahre später war alles vorbei, aber die Erinnerung an diese Situation blieb.
Nur war das hier etwas ganz anderes. Der Mann, der sie eingeladen hatte, war kein Jugendlicher, der die Pubertät gerade so überstanden hatte, sondern eine angesehene Persönlichkeit, die mitten im Leben stand und obendrein ziemlich attraktiv war.
Delandre bemerkte die kleine Pause und schlug daher vor: „Kennen Sie das Café du Centre? Das ist bestimmt nach Ihrem Geschmack. Haben Sie morgen Abend schon etwas vor? Wenn nicht, um 19 Uhr ?“
Julia hatte davon in einem Reiseführer gelesen. Aber das war preislich definitiv nicht ihre Kragenweite. Aber der Vorschlag kam von ihm, und so sagte sie zu: „Ich muss zugeben, dass ich noch nie da war, aber ich habe nur gutes davon gehört. Vielen Dank für Ihr Angebot. Morgen 19 Uhr passt wunderbar. Aber jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten. Bis morgen.“
„Ja, dann bis morgen.“ Er war überrascht von dem plötzlichen Abschied, aber er sah ihr mit einem Lächeln nach. Er würde sie an eine kurze Leine nehmen, aber auf eine sehr angenehme Art und Weise.
Andreas Tamm hatte an diesem Donnerstag schlechte Laune, und er konnte sich kaum konzentrieren. Gestern Abend hatte er einen heftigen Streit mit seiner Freundin Sonja, da sich seine Ex-Frau gemeldet hatte und sich mit ihm treffen wollte. Sonja hatte es mitbekommen und ihre eigenen voreiligen Schlüsse gezogen. Dass er sich ganz offensichtlich immer wieder heimlich noch mit ihr traf. Andreas hatte alle Mühe, sie zu überzeugen, dass dem nicht so war und er nur sie liebte. Aber sie ließ sich nicht davon abbringen, und so wurde es ziemlich laut zwischen den beiden. Schließlich verließ er wütend ihre Wohnung und fuhr zu sich nach Hause. Der Streit blieb in der Luft hängen, und er fühlte sich elend in dieser Situation. Zumal es nicht das erste Mal war. Ok, ein wenig Eifersucht war akzeptabel und irgendwie ja ein Zeichen von Liebe, fand er. Aber das gestern ging weit darüber hinaus. Er hatte sich sogar gefragt, ob er sich das weiterhin antun sollte oder ob eine Trennung für beide das Beste wäre. Aber nachdem er fast eine ganze Flasche Rotwein geleert hatte, war es ihm egal, und er fiel in einen unruhigen Schlaf.
Nun saß er am Schreibtisch im Institut und hatte gerade seine Kopfschmerzen mit zwei Tabletten gebändigt, als ihn das Telefon aus seinen Gedanken riss. Es war der Pförtner des Institutes.
„Dr. Tamm, hier ist ein Herr von der Polizei. Er möchte Sie sprechen. Ein Herr ...“, er hörte ein leises Nachfragen. „.... Hauptkommissar Michels.“
„Ist gut, danke, ich kenne Herrn Michels. Ich komme runter. Kleinen Moment noch.“ Hastig schob er die vielen Papiere zu ein paar halbwegs ordentlichen Stapeln zusammen, um nicht einen völlig chaotischen Eindruck zu machen.
Letzte Woche hatte sich dieser Michels wieder gemeldet und ihm angekündigt, dass sie nun auch das zu dem Zahn zugehörige Tier gefunden hätten und es zu ihm bringen wollten. Er solle reichlich Platz schaffen, aber auch alles tun, damit möglichst wenig Leute davon erfahren. Wasch mich, aber mach mich nicht nass, dachte sich Tamm. Aber er konnte sich auf seine Leute verlassen, wie auch schon in den vergangenen Situationen, in denen sie mit der Polizei zusammen gearbeitet hatten.
Spät abends kam der Lieferwagen mit dem Vieh, das sie in reichlich Folie eingewickelt hatten. Er rief Martin und Sylvia, zwei seiner Laboranten, denen er uneingeschränkt vertrauen konnte, an. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die nahezu 150 kg Kadaver in einen der abschließbaren Kühlräume zu schaffen, den sie vorher fast komplett leer geräumt hatten. Beim Transport wurde ihnen trotz des Mundschutzes, den sie natürlich trugen, durch den Gestank so schlecht, dass sie mehrfach absetzen und frische Luft holen mussten. Schließlich lag es ja bei frühlingshaften Temperaturen erst im Wasser und dann einfach an der Luft. Sie hofften, dass sich dieser penetrante Gestank, der mit nichts anderem zu vergleichen war, durch die Kühlung auf ein halbwegs erträgliches Maß verringerte.
Am nächsten Morgen erfüllte sich ihre Hoffnung glücklicherweise, und so begannen sie mit der Untersuchung. Zunächst wurden die üblichen Bilder gemacht und alles genau vermessen und gewogen. Andreas ließ es sich nicht nehmen, selber dabei zu sein. So etwas bekam man sicherlich nur einmal in seinem Leben zu sehen. Das Tier sah wirklich vollkommen fremdartig aus. Die Form der Zähne, die er ja bereits kannte, aber auch die Anordnung. Wie in einer Zickzacklinie war jeder zweite nach innen versetzt. Die Zahnreihen im Oberkiefer passten in die Lücken wie bei einer doppelten Schere. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu sich auszumalen, was passierte, wenn dieses Monster zubiss.
Die seitlich am Kopf sitzenden, aber dennoch nach vorn gerichteten Augen glichen nur auf den ersten Blick denen irdischer Tiere. Sie hatten zwar auch eine Pupille, aber darin konnte er auch einen hellen Ring erkennen, dessen Zweck ihm vollkommen unklar war. Die Haut war ledrig und mit vielen kleinen Schuppen besetzt. Haare konnte er nicht entdecken, aber dafür viele kleine Poren, die offenbar der Temperaturregelung dienten, ähnlich wie bei uns.
Dann die Gliedmaßen. Nicht wie bei irdischem Leben mit vier Zehen oder Fingern und einer Art Daumen, sondern an allen vieren gab es nur drei nach vorn gerichtete Finger bzw. Zehen, dafür waren aber zwei davon nach hinten ausgerichtet. Vorsichtig prüften sie die Beweglichkeit und waren erstaunt, dass sie fast ohne Widerstand in alle Richtungen drehbar waren. Das Tier musste ausgesprochen sicher damit laufen können, egal auf welchem Untergrund. Und außerdem mit den beiden vorderen, die fast doppelt so groß waren die der Hinterbeine, kräftig zupacken können.
Nachdem die äußerliche Analyse abgeschlossen war, setzten sie sich zusammen und arbeiteten einen Ablaufplan aus, welche folgenden Untersuchungen von wem gemacht werden sollten. Dabei wies Andreas alle noch einmal eindringlich auf absolutes Stillschweigen hin. Lediglich Renate wurde am nächsten Morgen von ihm kurz am Telefon informiert.
Nun war eine Woche vergangen, und er fragte sich einen Moment, was dieser Michels wohl diesmal von ihm wollte. Aber er würde es ja sofort erfahren.
Kurze Zeit später saßen sie in seinem Büro, vor ihnen jeweils ein Becher mit Kaffee.
„Was kann ich für Sie tun?“ begann Tamm.
„Wir haben Ihnen vor einer Woche dieses Urviech gebracht. Und den Hund des Rentners, der sich offenbar mit irgendwas infiziert hat.“
„Ich kann Ihnen gern ...“
Michels unterbrach ihn. „Das ist aber noch nicht alles. Wir sind nicht wegen der Ergebnisse hier. Noch nicht.“
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