Der Polizist ging zu dem Mann, der wimmernd auf dem Boden saß und sich sein Bein hielt. „Was ist mit ihm“ fragte er.
„Ich weiß es nicht“, gab der Polizist zu. „Er liegt jetzt ganz friedlich da. Aber ich weiß nicht, ob er ...“ Er brachte es nicht fertig, den Satz zu vollenden. Stattdessen wandte er sich um und rief einen Krankenwagen. Gerade in dem Moment tauchte eine Kollegin auf.
„Moin!“ rief sie. „Was gibt´s denn aufregendes so früh am Morgen?“ Sie war der fast klischeehafte Typ einer Polizistin. Mittelgroß, sportliche Figur, hübsch und die schulterlangen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Anstelle einer Antwort setzte er sich langsam in den Sand. Seine Kollegin wurde schlagartig ernst, als sie begriff, was hier los war. „Um Gottes willen! Was ist denn hier passiert?“ Und mit Blick auf den Mann: „hast du schon einen Arzt gerufen?“
„Ja klar“, erwiderte er matt. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er seine Kollegin ansehen konnte. „Ich erzähle dir das nachher, wenn Michels da ist. Wir haben etwas im Wasser gefunden, da drüben direkt am Anfang des Schilfgürtels. Aber bleib auf Abstand. Da stimmt was nicht.“
Sie nickte zwar, aber die Neugier war doch stärker. Vorsichtig ging sie zum Wasser hinunter und spähte in das Schilf. Nach kurzer Zeit kam sie langsam wieder zurück. „Ich glaube, wir brauchen Verstärkung. Ich werde …“
„Guten Morgen!“, grüßte Rainer Michels schon von weitem. „Ist wieder ein Wildschwein zerlegt worden?“
„Nein“, antwortete der Polizist, der alles hautnah miterlebt hatte. „Ich glaube, wir haben den Mörder gefunden. Er treibt dahinten tot im Wasser. ER ist ein Tier, fast wie ein Krokodil. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Und irgendwas ist damit nicht in Ordnung. Es ist noch immer gefährlich.“
Michels sah ihn ungläubig an. „Was sagen Sie da? Wenn es tot ist, was soll dann noch passieren?“
„Der Hund hier hat das Tier entdeckt und ist ins Wasser gesprungen, bevor wir reagieren konnten. Er hat versucht, es an einem Bein aus dem Wasser zu ziehen. Dann hat er aufgegeben und ist zurückgekommen. Nach kurzer Zeit verhielt er sich merkwürdig und hat sein Herrchen gebissen. Der Arzt ist übrigens schon unterwegs. Dann lag er da.“ Und leise fuhr er fort: „ich fürchte, er ist tot. Vielleicht ist das Tier dahinten giftig.“
Rainer bedankte sich und ging zu dem alten Mann. Er stellte sich kurz vor und versuchte ihn zu beruhigen. „Der Arzt ist gleich hier. Und wir werden uns um die Sache kümmern.“
„Aber was ist mit meinem Hund“, fragte dieser ängstlich. Er schien zu ahnen, dass er nie wieder mit ihm spazieren gehen würde.
„Es tut mir leid, aber ich fürchte, Ihr Hund ist tot. Es würde uns sehr helfen, wenn wir ihn mitnehmen dürfen, um herauszufinden, woran er gestorben ist.“ Er wählte bewusst diesen Ausdruck, da er spürte, dass der Hund mehr als nur ein Haustier für den Mann war.
Der Rentner war den Tränen nahe. „Ich weiß doch nicht, was in ihn gefahren ist. Warum hat er mich plötzlich gebissen?“ Er schluchzte. „Aber gut, wenn es Ihnen weiterhilft, nehmen Sie ihn mit. Aber ich möchte ihn bei mir beerdigen.“
„Ich werde dafür sorgen, dass Sie Ihren Hund zurück bekommen“, tröstete Michels. „Sehen Sie, da kommt der Arzt. Ich wünsche Ihnen gute Besserung für Ihr Bein, und wir melden uns dann wieder bei Ihnen. Darf ich den Arzt nach Ihrer Nummer fragen?“
„Ja, machen Sie nur. Hauptsache, ich bekomme ihn wieder.“
Der Notarzt kam heran und betrachtete die Wunde. „Können Sie aufstehen?“
„Jaja, das geht schon. Ist ja nicht tief und tut auch kaum weh.“ Aber sein verzerrter Gesichtsausdruck strafte ihn Lügen. Michels musste unwillkürlich über den Alten lächeln, obwohl die Situation alles andere als lächerlich war. Er wendete sich wieder an den Polizisten. „Wo ist das ominöse Tier?“
Dieser deutete an die Stelle im Schilf. „Dort drüben, rechts neben dem Ende des Strandes im Schilf.“
Michels ging vorsichtig heran, konnte aber kaum etwas erkennen. Er hatte plötzlich wieder das Bild des zerfetzten Wildschweines vor Augen und beeilte sich, vom Wasser wegzukommen. Selbst wenn das Tier wie tot aussah, war es das wirklich? Er wies die beiden Streifenpolizisten an, die Fundstelle abzusichern und alle Spaziergänger mit einem Vorwand von der Stelle fernzuhalten. Das Tier musste schleunigst abtransportiert und untersucht werden. Ihm fiel der Zahn wieder ein, den sie beim letzten Mal in der Nähe gefunden hatten. Er beschloss, Dr. Tamm und seine ehemalige Chefin, Frau Oberfeld - oder so ähnlich - anzurufen, wenn er zurück im Büro war.
Auf dem Weg zum Auto kamen ihm zwei jüngere Frauen entgegen, beide mit einem Labrador an langen Leinen. Er erschrak, als einer der Hunde stürmisch auf ihn zulief. Im letzten Moment zog ihn seine Besitzerin zurück und entschuldigte sich bei ihm. Bevor er etwas sagen konnte, hörte er rechts neben sich im Unterholz ein Rascheln, das schnell näher kam. So, als ob mehrere Tiere sich auf brachiale Weise einen Weg durch das Gebüsch bahnten. Wildschweine, etwas anderes konnte es nicht sein. Aber um diese Zeit? Bevor er weiter überlegen konnte, brachen plötzlich fünf große Wildschweine aus den Büschen und stürzten sich auf die völlig überraschten Hunde. Die beiden Frauen schrien auf und versuchten, ihre Hunde zurück zu ziehen. Aber bei denen waren die Instinkte stärker, und sie hörten überhaupt nicht mehr auf ihre menschlichen Besitzer. Sie gingen ebenfalls auf die Schweine los, hatten aber gegen die offenbar tollwütigen Schwarzkittel kaum eine Chance. Die Hauer richteten die Hunde fürchterlich zu, und erst als beide regungslos am Boden lagen, rannten die Schweine zurück in das Unterholz. Michels war völlig perplex. Er fühlte sich wie in einem Alptraum. So etwas hatte er noch nie erlebt, und die Überraschung machte ihn für die wenigen Augenblicke, die das gedauert hatte, völlig handlungsunfähig. Erst das Geschrei der beiden Frauen weckte ihn wieder auf. Sie stürzten sich auf die beiden leblosen Hunde und versuchten, ein Lebenszeichen zu finden. Aber vergeblich, die Schweine hatten mit aller Brutalität ganze Arbeit geleistet.
Michels konnte langsam wieder klar denken. Warum waren die Schweine so extrem aggressiv? Und warum gingen sie nur auf die Hunde los und ignorierten die Menschen komplett? Was war hier los? Gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen diesem Vorfall und dem Hund des Rentners, der sich ja schließlich auch ziemlich merkwürdig verhalten hatte und sogar sein Herrchen gebissen hatte? Er hoffte, die Antwort nach der Untersuchung des Tieres im Wasser zu bekommen.
Er ging auf die beiden Frauen zu, die noch immer nicht von ihren geliebten Hunden lassen konnten. Er konnte ihren Schmerz gut nachvollziehen, denn vor ein paar Monaten war sein eigener Hund von einem Auto angefahren und so schwer verletzt worden, dass er ihn hatte einschläfern lassen müssen.
„Entschuldigen Sie“, begann er. „Ich habe das eben alles miterlebt. Es tut mir sehr leid um ihre beiden Hunde.“
Die beiden beachteten ihn erst gar nicht. Dann sah eine von ihnen zu ihm auf. „Was war das?“ fragte sie mit tränenerstickter Stimme.
„Ich weiß es auch nicht. Aber ich versichere Ihnen, dass ich alles daran setzen werde, es herauszufinden“, versuchte er, die beiden zu trösten.
„Wie wollen Sie das denn machen? Sind Sie Biologe? Oder von der Polizei?“
„Letzteres. Und ich muss leider auch sagen, dass Sie nicht die ersten sind, die ihre Hunde verloren haben.“ In dem Moment, wo er das gesagt hatte, bereute er es auch schon. Das war ihm noch nie passiert. Und genau die befürchtete Reaktion trat auch ein.
Eine der beiden Frauen schrie ihn an: „Was passiert hier? Sagen Sie uns, was hier los ist! Wir haben ein Recht darauf!“
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