„Sondern?“
„Ich hatte Ihnen ja erzählt, dass sich dieser Hund mit einem Mal sehr merkwürdig verhalten hat und kurz vor seinem Tod sein Herrchen gebissen hat. Dem Mann geht es gut, abgesehen von der Trauer um seinen Hund. Aber ich selber war Zeuge von einer weiteren, mit unerklärlichen Situation.“
Er machte eine wohldosierte Pause. Tamm sah ihn durchdringend an und wollte schon nachhaken. Aber Michels kam ihm zuvor.
„Auf dem Weg zum Auto habe ich miterlebt, wie ein paar Wildschweine zwei Hunde regelrecht massakriert haben. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance. Die Schweine haben sich wie irrsinnig gebärdet. Kann es sein, dass dieses Monster einen Virus eingeschleppt hat, der sich auf andere Tiere überträgt und sie derart aggressiv werden lässt?“
„So wie Sie das beschreiben, ja“, antwortete Tamm. „Aber dazu müsste ich mir die Wildschweine genauer ansehen.“
„Deshalb sind wir hier. Wir haben von einem Jäger die Schweine abschießen lassen. Insgesamt 23 Stück. Sie kriegen alle und sollen herausfinden, was dahinter steckt.“
Tamm verschluckte sich fast an seinem Kaffee. „Wie bitte?? Sie bringen mir erst ein fünf Meter langes Monster und dann haben Sie noch 23 Schweine, die Sie herbringen wollen? Wo um alles in der Welt soll ich denn hin damit?“
Michels lehnte sich zurück. „Ich könnte ja jetzt sagen, dass das Ihr Problem ist. Aber ich weiß, was ich Ihnen damit zumuten würde. Und eine schlechte Stimmung können wir in dieser Situation am wenigsten gebrauchen.“
Andreas fragte gereizt: „Und was heißt das nun übersetzt?“
„Dass Sie uns sagen, was Sie von den Schweinen brauchen. Ob Blut, Gewebe, Zähne oder sonstwas. Sie nehmen sich die Proben in ausreichender Menge und wir sorgen dafür, dass die Kadaver so lange eingefroren werden, bis wir, oder besser gesagt: Sie Ergebnisse haben und wir unsere toten Schwarzkittelzeugen sicher nicht mehr brauchen.“
Tamm atmete auf. „Na Sie können einem ja einen gehörigen Schrecken einjagen. Aber Ihr Vorschlag ist auch meiner Meinung nach das Beste. Wann bringen Sie mir die Tiere?“
„Jetzt. Sie sind draußen im Wagen.“ Michels stand auf.
Tamm brauchte einen Moment, um zu begreifen, was dieser Polizist da gerade gesagt hatte. Mehr zu sich als zu Michels brummte er: „Solche Tage sollte man polizeilich verbieten. Wie bitteschön soll das denn gehen?“
Auf dem Parkplatz stand ein großer Kühlwagen einer Lebensmittel-kette, die sonst Tiefkühl-Fertiggerichte lieferte.
„Na, die haben ja offenbar ihr Sortiment komplett umgestellt“, meinte Tamm mit unverhohlenem Sarkasmus. Aber er sah schnell ein, dass ihm das hier nicht weiterhalf, und so zog er sein Handy aus der Tasche und rief im Labor an. Martin, der Cheflaborant, ging schon nach dem zweiten Klingeln dran. Als ob er auf den Anruf gewartet hätte, kam es Tamm vor. Er erläuterte die Situation und bat seinen Mitarbeiter herzukommen. Um was es ging, ließ er für den Moment offen. Er wollte nicht, dass Gerüchte verbreitet wurden.
Rainer Michels ließ ihn gewähren. Er wusste, dass er für den Moment hier nichts mehr tun konnte. „Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß, Dr. Tamm“, sagte er, zu Tamm gewandt. „Wenn Sie mich dennoch brauchen: Sie haben ja meine Nummer.“ Er drehte sich um und wollte gehen. Dann dämmerte es ihm, dass das gar nicht stimmte. Bevor Tamm protestieren konnte, zog er eine verknitterte Visitenkarte aus seiner Tasche und reichte sie ihm hinüber. „Jetzt ja.“ Er wendete sich wieder zum Gehen.
Aber Tamm rief ihn zurück. „Moment noch, Herr Michels.“
Michels ignorierte ihn und ging weiter. Er hatte einen langen Tag hinter sich und außerdem mächtigen Hunger. Tamm lief ihm hinterher. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass das Ganze nicht einfach nur eine Lieferung für eine überdimensionierte Grillparty war. „Ist Ihnen eigentlich klar, mit was wir es hier zu tun haben? Das sind nicht nur einfache Wildschweine!“
Michels blieb stehen und drehte sich um. „Sondern?“
„Das sind infizierte Tiere, die sonstwas in sich tragen. Und dieses Sonstwas kann zu einer Katastrophe führen.“
„Jetzt passen Sie mal auf. Ich bin nur Polizist und habe mich an Sie gewendet, weil Sie offenbar in diesen Dingen kompetent sind. Ich erwarte von Ihnen Ergebnisse. Ich will wissen, was es ist. Das müssen Sie mir nicht erst erklären. Und ich will wissen, was wir weiter tun müssen, und zwar schnell.“
„Danke, dann sind wir jetzt zu zweit.“ Tamm wurde langsam wütend. Polizist hin oder her, hier ging es um weit mehr als nur Formalitäten irgendwelchen Staatsbeamten gegenüber. „Sie haben hier die Schweine abgeliefert. Gut.“ Er atmete ein paar Mal tief durch. „Wir nehmen die Proben, und zwar heute noch. Aber dann will ich nichts mehr davon sehen, ok? Wir können hier alles gebrauchen, aber kein Aufsehen.“
„Ist ja gut, ich sorge dafür, dass wir den Rest wieder mitnehmen.“
„Und wohin bitteschön? Zu einem netten Waldrestaurant, das dann für die nächsten Wochen als Sonderaktion Wildschweingulasch besonders preiswert anbietet?“
Michels sah in mit großen Augen an. Tamm hörte förmlich den Groschen pfennigweise fallen. Offenbar begriff dieser sture Beamte endlich. Tamm nutzte die Stille. „Also, folgender Vorschlag. Ich rufe Sie an, wenn wir alles haben, was wir brauchen. Sie sorgen dafür, dass die Reste der Kadaver zu einer autorisierten Verbrennungsanlage gebracht werden, die eine Genehmigung hat, infiziertes Krankenhausmaterial unschädlich zu machen. Dorthin verfrachten Sie die Schweine, lassen Sie aber unbedingt in den Beuteln. Ich gebe Ihnen die entsprechenden Papiere mit. Ich lass mir was einfallen. Solange wir nicht wissen, was wir hier vor uns haben, müssen wir jegliches Risiko ausschließen.“
Michels zog es vor, nicht zu antworten, und nickte nur.
Tamm hakte nach. „Herr Michels, das ist extrem wichtig, verstehen Sie?“
„Ja, das ist mir natürlich klar. War es mir immer. Aber danke, dass Sie es noch einmal auf den Punkt gebracht haben. Ich kümmere mich darum. Schönen Abend noch.“
„Danke, werden wir haben“, rief Tamm ihm nach. Kurze Zeit später waren Martin und Sylvia zur Stelle. Sie standen zunächst ziemlich ratlos vor der offenen Tür des LKW und sahen die tiefgefrorenen Schweine von der Decke hängen. Rein äußerlich war nichts zu sehen. Aber Tamm wusste, dass das nichts bedeutete. Wenn es sich wirklich um einen Virus handelte, hatte Michels höchst leichtsinnig gehandelt. Wer wusste schon, auf welchem Weg sich dieser Mikroorganismus, besonders wenn es eine womöglich völlig unbekannte, vielleicht sogar außerirdische Art war, verbreitete. Das einzige, was ihn halbwegs beruhigte, war die Tatsache, dass es in dem Wagen etwa minus 20°C kalt war und so irgendwelche biologischen Aktivitäten im wahrsten Sinne des Wortes auf Eis lagen.
Zuerst wurde bestimmt, welche Schutzmaßnahmen zu treffen seien. Dann besprachen sie, welche Proben genommen werden sollten. Da die Schweine ein extrem aggressives Verhalten gezeigt hatten, war es wahrscheinlich, dass eine Veränderung im Blut, in den Nervenzellen, im Gehirn oder eine Kombination von allem der Auslöser war. Also beschlossen sie, von jedem der Schweine Blutproben zu nehmen – was in diesem Zustand einfach hieß, sich ein ordentliches Steak herauszuschneiden und es unter Quarantäne für die Analysen aufzutauen. Der schwierige Teil bestand darin, an die Gehirne zu kommen. Das alles konnte nicht einfach hier im Kühlwagen passieren. Also mussten die Viecher in einen der Kühlräume gebracht werden. Dazu wurden sie einzeln in große Kunststoffbeutel verpackt, um eine Kontamination weitgehend auszuschließen. Tamm schimpfte leise in sich hinein, weil er derart improvisieren musste. Aber es half nichts. Das Sezieren war letztendlich reine Routine. Sie teilten es sich zu dritt auf, und so hatten Sie spät abends alles, was sie brauchten, in sterile Behälter verpackt und alle fein säuberlich beschriftet. Tamm rief Michels an und informierte ihn, dass die Schweine nun wieder abgeholt werden konnten. Kurz darauf fuhr der Kühltransporter wieder vom Hof des Institutes.
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