Er hob plötzlich den Kopf und lauschte in die Dunkelheit. Ein leises Schleifgeräusch schien von allen Seiten näher zu kommen. Ak´lia rückte näher an ihn heran. Auch sie hatte es gehört. „Was ist das?“, flüsterte sie.
„Ich weiß es auch nicht.“ Er sah sie an. „Wir müssen die anderen wecken. Ich will nicht, dass wir überrascht werden.“
Er wandte sich um und wollte Dan´iod wecken, als unvermittelt neben ihm ein schwarzer Schatten auftauchte und sich auf ihn stürzte. Nur seine ausgezeichneten Reflexe bewahrten in davor, von einem Maul voller nadelspitzer Zähne gepackt zu werden. Er stieß einen schrillen Pfiff aus, um alle anderen zu wecken. In der Dunkelheit war kaum etwas auszumachen, aber er sah mehrere große Tiere, die sich alle in ihre Richtung bewegten. Sie erschienen plump und unbeholfen, aber er hatte gerade selber erfahren, wie schnell sie waren. Mittlerweile waren alle aufgesprungen und wollten sich in die Luft erheben. Aber durch die Kälte der Nacht waren ihre Flügel nicht in der Lage, sie zu tragen, da sie ihre Spannung erst bei höheren Temperaturen erhielten. So griffen sie zu ihren Blasrohren und begannen, die Wesen mit ihren in Krallgift getauchten Pfeilen zu beschießen.
Kelnin stand mit dem Rücken an einem flachen Felsen und sah, dass eines nach dem anderen dieser weit verbreiteten Raubtiere dem schnell wirkenden Nervengift erlag. Zu spät hörte er ein Geräusch über sich. Ein weiteres dieser kräftigen, krokodilartigen Wesen war auf den Felsen gekrochen und stürzte sich nun von oben auf ihn. Bevor irgendjemand aus der Gruppe reagieren konnte, hatte ihn das Wesen gepackt und ihm den linken Arm und Flügel abgebissen. Er schrie auf, aber das schien den Angreifer nur noch aggressiver zu machen. Es schoss erneut vor, und bevor ein Hagel von Pfeilen ihm den Garaus machen konnte, hatte es ihn bereits mit seiner armdicken Fangzunge gepackt, zu sich hingezogen, seinen Kopf gepackt und zugebissen. Zusammen sanken sie auf die steinige Erde.
Wie gelähmt standen alle anderen um die beiden Leichen herum. Ak´lia saß abseits und starrte in die undurchdringliche Dunkelheit. Es war absolut still geworden. So als ob alle nachtaktiven Tiere mittrauerten. Eine unwirkliche Situation. Sie zählten sieben dieser Bestien, die vor nichts halt machten. Über vier Meter lang, auf kurzen Beinen unterwegs, auf dem Rücken schwer gepanzert mit einem Dornenkamm. Das Gefährlichste war ihre mehrere Meter lange Fangzunge, die mit Widerhaken besetzt war und aus deren Griff es kein Entrinnen gab. Sie war ein einziger, sehr starker Muskel, der nur den Zweck hatte, alle in Reichweite befindlichen Lebewesen in das zähnestarrende Maul zu befördern. Dagegen hatte auch Kelnin nicht die Spur einer Chance.
Nach einer kleinen Ewigkeit ergriff Dan´iod das Wort. „Ak´lia, es tut mir furchtbar leid um Kelnin. Er war auch für mich ein guter Freund.“ Seine Stimme brach. Er drehte sich um und atmete ein paar Mal tief ein, bis sich sein Innerstes beruhigt hatte. Er wusste, dass die Zukunft von ihm und seinen Entscheidungen abhing. Wenn er jetzt Schwäche zeigte, würde das mit Sicherheit das Ende der Gruppe bedeuten. Angesichts dieses Gedankens fühlte er sich, als ob eine unfassbar schwere Last auf seinen Schultern ruhte, die er nicht abwerfen konnte. Aber er sagte sich, dass ihn das auch stark machen würde und ihm für alle Zukunft ungeteilten Respekt bringen würde.
Mit festerer Stimme fuhr er fort. „Wir sind nun noch elf. Die Zeit zum Trauern wird kommen. Aber nicht jetzt. Es steht zu viel auf dem Spiel. Für uns alle. Heute Nacht wird keiner mehr schlafen. Ich glaube zwar nicht, dass noch mehr von diesen Kreaturen kommen werden, aber ich muss jedes Risiko ausschließen. Lasst uns Kelnin für seine letzte Reise vorbereiten. Ich weiß, dass uns hier die richtigen Mittel fehlen, aber ich will ihn nicht den Tieren hier überlassen.“
Er blickte in die Runde. Keiner erwiderte etwas. Alle wussten, dass er Recht hatte. Schließlich trat Ak´lia einen Schritt auf ihn zu.
„Kelnin ist tot. Ich weiß, dass du es nicht hättest verhindern können. Du bist hier genauso fremd wie wir alle und kennst die Gefahren nicht. Du bist unser Anführer. Du hast die Verantwortung für uns und unser Volk, das, was von ihm übrig geblieben ist. Ich spüre, wie sehr dich das belastet. Daher sollst du wissen, dass ich dir keine Schuld geben werde an seinem Tod. Ich vertraue dir.“
„Danke.“
Das war alles, was Dan´iod erwiderte. Aber aus diesem einen Wort war enorme Erleichterung herauszuhören. Er blickte zum Himmel, der sich langsam heller färbte. Diese schreckliche Nacht würde gleich zu Ende sein. Während dessen begannen die anderen, Kelnins Wunden mit Pflanzen abzudecken und ihn in eine bestimmte, aufrecht sitzende Stellung zu bringen. Dann errichteten sie eine flache Pyramide aus Steinen über seinen sterblichen Überresten und dichteten die Lücken dazwischen sorgfältig mit Flechten ab. Dann zerrieben sie die Blätter der Steinlilie, die hier überall wuchs und einen intensiven Geruch ausströmte. So konnte der Leichnam weder gesehen noch von einer empfindlichen Raubtiernase gewittert werden. Zum Schluss stellten sie sich alle um die Grabstätte herum auf und Ak´lia begann einen leisen Gesang, der Kelnin den Weg in die Ewigkeit begleiten würde.
Immer wieder trafen die Blicke der anderen auf Dan´iod. Aber darin lagen keinerlei Misstrauen oder Furcht. Sie wussten alle, dass sie nur gemeinsam überleben würden. Wenn es innerhalb der Gruppe zu Streit oder Machtkämpfen kam, wäre das das Ende. Als die ersten Strahlen der Sonne über die Landschaft strichen und die Luft spürbar erwärmten, erhob sich die Gruppe wieder in die Luft, um ihre Reise ins Unbekannte fortzusetzen.
Das Wasser kochte endlich, und Renate goss sich ihren Frühstückstee auf. Sie hatte gestern Abend lange versucht, über das Internet zumindest ein paar Anhaltspunkte oder Ideen zu bekommen, mit was sie es hier zu tun haben könnte. Aber außer ein paar Artikeln, die sie für sich in die Kategorie „Science Fiction“ packte, war nichts Brauchbares zu finden. Zwischendurch kamen ihr immer wieder die Tränen, wenn sie an Alfi denken musste. Würde sie sich wieder einen Hund zulegen? Er war ihr wie ein Freund, ja fast ein Partner, mit dem sie durch dick und dünn gehen konnte. Aber erst einmal lag noch etwas vor ihr, das sie um alles in der Welt aufklären wollte.
Nach dem Frühstück rief sie in der Uni an. Sie wollte Andreas Tamm nach dem aktuellen Stand fragen. Nach dem dritten Klingeln hob er ab. „Hallo Andreas“, grüßte sie. „Habt ihr schon die Ergebnisse des DNA-Tests?“
„Guten morgen, Renate“, begann er. „Ja, schon. Aber wir grübeln noch, wie wir das interpretieren sollen. Am besten, du kommst selber her und siehst dir das an“, schlug er vor. „Ich meine, ich habe schon etliche Chromatogramme gesehen und verglichen, aber das hier kommt mir komisch vor. Wir sind gerade dabei, die DNA chemisch zu analysieren. Vielleicht hilft uns das weiter.“
„Das klingt ja spannend. Aber gut, ich mache mich auf den Weg. Wird aber etwas dauern. Bis nachher“, schloss sie das Gespräch und legte auf.
Mit einem unguten Gefühl räumte sie den Tisch ab und zog sich ihre Jacke über. Was ging hier vor? Waren sie einer Sensation auf der Spur? Oder spielte ihnen hier jemand einen bösen Streich? Auf jeden Fall wollte sie persönlich dabei mitmachen. Nicht aus einem wie auch immer gearteten Geltungsbedürfnis hinaus. Das hatte sie in den langen Jahren abgelegt. Vielmehr erwachte in ihr wieder die Forscherin, und außerdem sagte sie sich, dass sie es ihrem Alfi schuldig war.
Die U-Bahn fuhr um diese Zeit alle paar Minuten, und so stand sie nach knapp einer Stunde mit Andreas im Labor und betrachtete die Gelchromatogramme, die die einzelnen Bruchstücke der DNA zeigten. Durch ein spezielles Anfärbeverfahren konnten sie die einzelnen Bestandteile gut auseinander halten. Bei dem Verfahren wird die isolierte DNA durch spezielle Enzyme aufgespalten. Die einzelnen Fragmente werden in einem Gel durch Anlegen eines Stromes verschieden weit transportiert und ergeben so ein charakteristisches Muster.
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