Gisela erhob sich und gab ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange.
„Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“
Fulk fühlte sich rastlos. Er begann, in seinem Zimmer auf und ab zu laufen. Immer wieder ging ihm der Überfall durch den Kopf. Wieso hatten die Wikinger gerade seine Festung angegriffen? Es gab einige, die dichter an der Küste lagen und einfacher zu erreichen waren. Und wieso folgten die wilden Krieger einem bartlosen Jüngling? Er musste etwas Besonderes sein.
„Verdammt! Wenn ich nur wüsste, was das alles zu bedeuten hat!“
Da Fulk viel zu aufgeregt zum Schlafen war, beschloss er, noch einmal nach seinen Männern zu sehen.
Brice hatte esan der Schulter erwischt und es war fraglich, ob ihm die volle Beweglichkeit seines Schwertarms erhalten bleiben würde. Engilbert war am Oberarm verletzt, zum Glück am linken und er hatte ein paar kleinere Verletzungen an Brust und Armen. Drei seiner Krieger waren schwer verwundet und es war nicht sicher, ob sie die Nacht überstehen würden. Zuerst suchte Fulk seinen Vetter in dessen Zimmer auf und wünschte ihm pflichtschuldig eine baldige Genesung und eine gute Nacht. Dann schaute er nach den verletzten Kriegern und ging zuletzt zu seinem Freund, der sich mit einem Stuhl vor das Feuer gesetzt hatte und einen Becher mit gewürztem Apfelwein leerte. Fulk zog sich ebenfalls einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm.
„Wie geht es deiner Schulter? Hast du Schmerzen?“, fragte er und nahm einen Becher mit Met entgegen, den eine Magd ihm reichte.
„Es ist nicht so schlimm. Das hilft darüber hinweg. Noch einen Becher und ich schlaf selig wie ein Neugeborenes“, antwortete Brice mit einem Grinsen. „Und wie steht es bei dir?“
„Ach, halb so wild.“ Fulk nahm einen tiefen Zug von dem Met und wischte sich über den Mund. „Meine Schwester will morgen früh unbedingt die gefangenen Wikinger versorgen. Sie meint, es wäre unsere Christenpflicht. Pah!“
Fulk nahm einen weiteren Schluck. Er starrte in die flackernden Flammen des Feuers. Ein durchgeglühtes Holzscheit barst auseinander und Funken sprühten.
„So unrecht hat sie doch nicht. Was ist schon dabei, wenn du sie ihre Wunden versorgen lässt?“ Brice winkte einer Magd und orderte einen neuen Becher Apfelwein, dann wandte er sich wieder seinem Freund zu. „Was hast du jetzt eigentlich mit deinen Gefangenen vor?“
„Darüber werde ich mir morgen den Kopf zerbrechen. Ich werde jetzt noch mal nach diesem jungen Anführer sehen und versuchen, etwas aus ihm heraus zu bekommen. Er ist verdammt jung für einen Anführer.“
Entschlossen leerte Fulk seinen Becher in einem Zug und knallte ihn vor sich auf den Tisch.
„Vielleicht ist er der Sohn eines Anführers. Männer folgen keinem kleinen Jungen, wenn er nicht etwas Besonderes ist“, überlegte Brice und kratzte sich ausgiebig das Kinn.
„Eben das ist es, was mir Kopfzerbrechen bereitet“, seufzte Fulk. „Ich nehme ihn mir noch einmal vor. Wir sehen uns morgen beim Frühmahl.“
„Ja. Eine gute Nacht.“
Fulk erhob sich und legte seine Hand auf Brice gesunde Schulter. „Gute Nacht!“
Fulk ließ sichdie Tür von einem Wärter aufschließen und betrat den Verschlag, wo man den Anführer der Wikinger untergebracht hatte. Der Wärter steckte zwei Fackeln in eiserne Wandhalterungen, denn es war sehr dunkel in dem kleinen, fensterlosen Raum. Fulk gewahrte den jungen Wikinger, der auf der harten Bank hockte und ihn aus türkisfarbenen Augen anfunkelte. Er trug noch immer das Wolfsfell mit Kopf auf dem Haupt, was ihm trotz seiner weichen Gesichtszüge eine gewisse animalische Bedrohlichkeit verlieh.
„Lass uns allein!“, befahl Fulk dem Wärter.
„Aber Herr, er ist vielleicht gefährlich!“
„Hast du Schwierigkeiten damit, meine Befehle zu befolgen?“, fragte Fulk mit drohender Stimme.
„Nein, gewiss nicht Herr Graf!“, antwortete der Wärter unterwürfig und verließ den Raum, die Tür hinter sich schließend.
Eine Weile herrschte Schweigen, während Wikinger und Franke sich gegenseitig herausfordernd musterten. Es gefiel Fulk, dass der Junge keine Angst zeigte, auch wenn er sie sicherlich hatte. Jeder vernünftige Mann hatte Angst. Fulk nahm sich die Zeit, sein Gegenüber genau zu betrachten. Die ledernen Beinkleider waren blutbefleckt und am Oberschenkel sogar blutdurchtränkt. Der Junge war also doch verletzt. Die Tunika war teilweise zerrissen und der lederne Brustpanzer, den der Wikinger darüber trug, war mit seltsamen Zeichen verziert. Das Gesicht des Jungen war verdreckt, was seine hellen Augen noch mehr leuchten ließ. Die Gesichtszüge waren fast zu schön für einen Jungen. Die Nase schlank und kühn geschwungen, die Lippen voll und die Augen wurden von langen Wimpern und fein geschwungenen Brauen umrahmt.
„Wie nennt man dich?“, wollte er wissen.
„Ylfa!“, antwortete der Wikinger brummig.
„Du bist verletzt!“, sagte Fulk und deutete auf die blutige Hose.
„Ein Kratzer!“, sagte Ylfa abfällig. „Ist nicht meine erste Verletzung.“
„Trotzdem werde ich das untersuchen lassen“, sagte Fulk bestimmt und rief den Wärter.
Es dauerte nicht lange, bis der Gerufene in den Raum geeilt kam. Er blickte mit grimmiger Miene umher, offenbar in dem Glauben, der Gefangene hätte irgendwelche Schwierigkeiten gemacht. Als er die Lage erfasst hatte und offensichtlich keine Gefahr zu drohen schien, wandte er sich Fulk zu, in Erwartung eines Befehls.
Fulk sprach, ohne den Blick von dem Gefangenen abzuwenden.
„Schick nach Jungfer Gisela. Sie soll etwas zum Verbinden mitbringen.“
Der Wärter nickte und eilte davon.
„Ich brauche kein Weib, das mich wickelt wie ein Kleinkind“, knurrte Ylfa.
„Das entscheide ich! Du hast hier keinerlei Rechte mehr. Ich will, dass du bei bester Gesundheit bist, wenn ich über dein weiteres Schicksal entscheide.“
„Reine Verschwendung, wenn du mich sowieso töten willst. Glaube nicht, dass ich Angst davor habe“, sagte Ylfa mit einem mühsam verborgenen Zittern in der Stimme.
„Natürlich nicht!“, antwortete Fulk mit einem gönnerhaften Grinsen.
Das Bürschchen imponierte ihm immer mehr. Wer auch immer sein Vater war, er konnte stolz auf seinen Sohn sein.
„Warum hast du meine Festung überfallen? Es gibt einige Anlagen, die besser gelegen sind, dichter am Meer. Was hat dich hier her verschlagen?“
Ylfa schwieg beharrlich.
„Nun, vielleicht braucht es ein wenig Überredungskunst, um deine Zunge zu lockern. Wie würde dir die Peitsche gefallen? Sie hat schon stärkere Männer als dich zum Reden gebracht“, sagte Fulk mit bedrohlichem Unterton.
„Du bist seltsam, Franke . Erst willst du meine Wunden heilen, dann drohst du mir mit der Peitsche. Ist das bei euch etwa so üblich?“
Fulk fluchte im Stillen. Das hatte er nun davon, dass er sich von Giselas Gutmütigkeit hatte anstecken lassen. Nun war seine Glaubwürdigkeit dahin.
„Denk nicht, dass ich davor zurückschrecke, dir wehzutun. Es gibt einige Methoden, die dich quälen, ohne dabei allzu großen körperlichen Schaden anzurichten.“
Mit Genugtuung registrierte er das kurze Aufblitzen von Angst auf dem Gesicht des Wikingers, auch wenn dieser sich schnell wieder unter Kontrolle hatte.
„Überlege es dir gut!“
In diesem Moment betrat Gisela mit einem Korb über dem Arm den Verschlag. Fragend sah sie ihren Bruder an. Hatte er nicht gemeint, dass sie erst morgen nach dem Gefangenen sehen würden? Ihr Blick fiel auf den Wikinger, der noch erstaunlich jung aussah. Das sollte der Anführer der wilden Wikingerbande sein? Sicher, Männer zogen jung in die Schlacht. Doch nicht als Anführer von Männern, die nicht nur älter, sondern auch erfahrener waren. Irgendetwas stimmte hier nicht, das spürte Gisela. Sie konnte nur noch nicht sagen, was es war.
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