Je näher der Termin rückte, desto nervöser wurde ich. Dietlindes Versuche, herauszukriegen, was eigentlich los war, besserten meine Laune auch nicht, und der Kantinenfraß verdiente vorläufig immer noch einen täglichen Wutanfall. Immerhin wurde am Donnerstag ein ausrangierter englischer Postbriefkasten, feuerrot und schnörkelig verziert, in einer Nische unseres Gangs an die Wand geschraubt, und darauf prangte ein Schild Kummerkasten .
Ich grinste und schrieb sofort ein Zettelchen: Tolle Idee! B. Landmann .
Am Freitagvormittag wurde Dietlinde zum Chef gebeten. Was war jetzt los? Eignete sie sich doch besser für die Rolle? Dann würde ich aber sauer, ich hatte schon jede Menge Strumpfhosen und anderen Kram besorgt und meinen Kimono gefunden, gewaschen und gebügelt. Das wollte ich nicht umsonst gemacht haben! Ich nutzte die Gelegenheit und verehrte Gundler, der verzweifelt mit einer Akte kämpfte, die ihren Inhalt über den Boden verstreut hatte, sein Riesennikolausi.
„Das ist aber lieb von Ihnen. Und ich hab das gar nicht verdient!“
„Doch, haben Sie, Sie sind doch ein netter Chef!“
„Aber diese Akten! Wo ist denn jetzt wieder – ach, es ist zum Verzweifeln. Ich finde das Gutachten -“
„Ist es das hier?“ Ich fischte ein Blatt unter dem Tisch hervor.
„Gott sei Dank. Ach, ich schaffe das alles nicht mehr. Na, nur noch zwei Monate...“
„Zwei Monate? Was ist dann? Machen Sie dann Urlaub?“
„Nein, dann gehe ich in Rente. Aus gesundheitlichen Gründen. Haben Sie das gar nicht gewusst?“
„Nein...“ Ich war etwas benommen. War ein neuer Chef gut oder schlecht? Frischer Wind oder Kasernenhofton? Praetorius war offen für neue Ideen, das war schon mal positiv, aber vielleicht wurde ein echter Kotzbrocken neuer Chef? Oder gar so eine Schnarchnase wie Grasmeier, der schon wieder Zeitung las und wohl glaubte, man sähe es nicht, weil er eine solche Unordnung auf seinem Schreibtisch hatte? Mechanisch heftete ich alles in die Mappe und verschloss sie dann. „Hier, bitte. Ich finde es schon schade. Wir sind doch immer gut miteinander ausgekommen.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, das wird Ihnen mit der neuen Leitung sicher auch gelingen. Und der Nikolaus, das ist wirklich lieb von Ihnen!“
Er packte mich und küsste mich kurz auf die Wange. Ich machte mich vorsichtig los und wünschte noch einmal Frohe Weihnachten, dann kehrte ich zu meinen Schadensfällen zurück.
Im Januar würde es wieder endlos Wachsflecken, Brandschäden und zerbrochene Geschenke geben – wenn man etwas nicht umtauschen konnte, schlug man es kurz gegen die Tischkante und ließ die Versicherung zahlen, das kannte ich schon.
Dietlinde kam ja ewig nicht zurück! Hatte sie ihn in die heiligen Hallen mit dem besseren Essen begleiten dürfen? Sogar Gundler musste noch in die normale Kantine, also kursierten zwar wilde Gerüchte über befrackte Kellner, Oben-ohne-Bedienungen (das hatte Tom von nebenan beigesteuert), Kerzenlicht und täglich Hummer, Kaviar und Champagner unter uns Fußvolk, aber niemand hatte das Casino je von innen gesehen.
Ich schrieb Mängellisten wegen fehlender Gutachten, Rechnungen, Bestätigungen und unklarer Tathergänge, warf immer wieder fertige Briefe in den Ausgangskorb und fragte mich, was Dietlinde wohl trieb. Erst kurz vor halb zwei kam sie zurück, ganz benommen wirkend. „Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!“
„So ähnlich. Hast du schon gegessen?“
„Nein, ich wollte gerade. Dann warst du nicht im Casino?“
„Im Casino? Nein, warum?“
„Ich dachte nur – dann hätten wir doch endlich mal gewusst, wie es dort aussieht. Na komm, gehen wir. Und du erzählst mir, warum du so verwirrt bist.“
Als wir mit einer matschigen Salatmischung und je einem Rollmops, um den Freitag zu heiligen, an unserem Fenstertisch saßen, grinste sie unsicher. „Rate mal, was war?“
„Praetorius hat dir seine glühende Leidenschaft gestanden“, schlug ich vor.
„Was? Nein, der war so was von sachlich, das war schon fast beleidigend.“
Ach was? Bei anderen Leuten blieb er beim Thema, und mich nervte er mit Abschweifungen? „Dann weiß ich nicht. Habt ihr zusammen den neuen Speiseplan gemacht? Du verstehst ja mehr von ausgewogener Ernährung als ich.“
„Auch falsch. Hast du gewusst, dass der Gundler zum 28.2. aufhört?“
„Ja, hat er mir vorhin gesagt. Was hat das damit zu tun?“
„Rate, wer neuer Abteilungsleiter wird!“
Ich guckte blöde, dann fiel der Groschen und ich starrte sie mit offenem Mund an. „Du? Ehrlich?“
„Ja, ehrlich. Irre, was?“
„Wirklich. Herzlichen Glückwunsch, du kriegst das sicher hundertmal besser hin als der arme Gundler.“
Ja, das meinte ich ehrlich. Aber ich hätte es auch hundertmal besser hingekriegt! Glühender Neid durchzuckte mich, und sofort schämte ich mich, aber ich konnte es nicht ändern: Dietlinde kriegte einen besseren Job, und was kriegte ich? Einen peinlichen Auftritt vor seiner Familie! War ich sonst zu nichts zu gebrauchen? Um Himmels Willen, was für einen Eindruck hatte ich ihm denn vermittelt? Freche Klappe und nichts dahinter? „Kommt das von ihm oder von der Geschäftsleitung?“
„Ich glaube, er hat ein Vorschlagsrecht, und wenn nichts Gravierendes dagegen spricht, folgen sie seinen Vorschlägen, weil er die Abteilung ja kennt. Scheiße!“
„Was denn? Du wirst neue Abteilungsleiterin, mit Glaskabuff und allem, und beschwerst dich noch?“
„Nein, deshalb doch nicht, deshalb bin ich total happy, das hätte ich doch gar nicht zu hoffen gewagt. Ich hab mich ja nicht einmal beworben!“
„Ich auch nicht, ich wusste gar nicht, dass man sich bewerben konnte. Gundler hat mir erst vorhin gesagt, dass er aufhört. Wieso ärgerst du dich dann?“
„Ich hab Zement am Rock. Da oben ist eine obskure Baustelle, irgendwas wird neu gemacht, und ich muss im Vorbeigehen... ob das wieder rausgeht?“
„Mach´s lieber sofort, wenn Zement erstmal aushärtet, wird es schwierig.“
Dietlinde verschwand aufs Klo, und ich konnte mich meinem Frust widmen. Wäre es nicht fair gewesen, allen die Möglichkeit zu geben, sich um Gundlers Nachfolge zu bewerben? Der Job hätte mich auch gereizt. Jetzt durfte Dietlinde ins Glaskabuff, und ich saß immer noch draußen und schlitzte Briefe auf. Und die anderen waren doch so dumpfbackig! Grasmeier und die übrigen Deppen... Na, Heike war noch ganz nett, aber die wartete auch nur, bis es fünf wurde und außerdem, dass sie einer da wegheiratete. Für so blöde hatte ich Praetorius nicht gehalten, aber ich konnte ja nicht hinrennen und quengeln Mama, Mama, ich will auch einen besseren Job!
Mir traute er das also nicht zu: sehr aufschlussreich! Na, ich würde dieses dämliche Weihnachten hinter mich bringen – je näher es rückte, desto mehr grauste es mir davor – und ihn dann ignorieren. Und bis fünfundsechzig Briefe aufschlitzen. Verdammt! Die Abteilungsleitung wäre die einzige Chance gewesen, wenigstens etwas zu werden.
Dietlinde kam zurück, der Rock nass, aber sauber. Ich lächelte, bis mir das Gesicht wehtat. „Noch mal herzlichen Glückwunsch – du hast es wirklich verdient!“ Das hatte sie auch – aber ich hätte es eben auch verdient, wir waren beide gut in unserem Job. Vielleicht hatte ich keine Führungsqualitäten? Hatte Gundler sie empfohlen? Hätte ich früher mit dem Nikolaus rüberkommen sollen?
Ach, jetzt war es ohnehin zu spät! Zu Hause war ich immer noch extrem schlecht gelaunt – auch, weil ich mich über mich selbst ärgerte, dass ich mich nicht neidlos für Dietlinde freuen konnte. Irgendwas hatte ich falsch gemacht, mich nicht als künftige Führungskraft verkauft. Oder hatte sie die bessere Ausbildung? Nein, sie war genau so eine Studienabbrecherin wie ich, und sie hatte die gleichen paar Semester Jura hinter sich. Sie war ein Jahr älter, gut, aber das konnte es ja wohl nicht sein!
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