Ich mag nicht wieder wichtig werden.
Ich mag einfach nur da sein.
Stattdessen stülpt sich der städtische Alltag über mich wie Matsch, wie ein Sumpf aus Verpflichtungen durch den ich wate. Der warme Spätsommer versüßt das nur mäßig. Würde gerne ab und zu die Pausetaste drücken, aber ich finde sie nicht. Lässt sich die Pausetaste nicht aus dem Urlaub in die Stadt importieren? Was hält mich in der Stadt davon ab, ‚nichts’ zu tun? Im Urlaub noch wollte ich mich dem Lebensfluss hingeben. Nun meine ich schon wieder, dagegen anstrampeln zu müssen. Oder habe ich ihn verloren?
Im Norden habe ich das einfache Dasein schätzen gelernt. Einfaches Dasein, mit dem Meer vor der Nase. Nichts anderes machen können und müssen als das, was sich an diesem Ort bietet. An diesem Ort, an dem sich an Persönlichem nur das Notwendigste und Liebste befindet. An dem sich auch das Handeln eingrenzt auf das dem eigenen Leben Wichtigste. Nur.
‚Nur’ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht Reduzierung, sondern Essenz.
Am Meer ist so viel Kraft. Pure Energie. Ich ein kleines Element darin, und auch voller Kraft, als würde die überschwappen, durch die Wellen, in die Poren. Infiltriert mit Energie und Kraft, ich. So ganz anders als in der Stadt.
Am Meer bei mir, in der Stadt neben mir.
Dabei ist es doch so elementar, bei sich zu sein. Erschreckend, wie oft ich mich verliere, in meinem Stadtleben, und eben nicht bei mir bin, sondern nur funktioniere. ‚Nur’ diesmal in der Bedeutung der Reduzierung, nicht der Essenz.
Nur zu funktionieren - das ist zu wenig.
Nur da zu sein - das ist Fülle.
Irgendwie werde ich nun den nahenden Winter in Berlin überstehen müssen, ohne seidigen Sand an den Füßen, und ohne funkelnde Salzwassertropfen auf der Haut.
Ich denke immer wieder mal an Marielou in diesem Winter. Wie es ihr wohl geht? Ob sie wiederkommt im nächsten Jahr?
Meine Neugier lässt mich öfter als früher am Haus von den Hansens vorbeigehen, immer in der Hoffnung, vielleicht etwas aufzuschnappen oder zu entdecken, was mir einen Hinweis auf sie geben könnte. Gestern hat es sich tatsächlich gelohnt: Herr Hansen hatte die Post auf dem Gartentisch liegen lassen, darunter war eine Weihnachtskarte von Marielou - ich konnte nicht anders, als die Karte zu lesen.
„Manchmal frage ich mich, ob ich nicht mein Leben umkrempeln sollte: zu Euch in den Norden ziehen, und mir dort einen Job suchen“ stand, neben den Weihnachtsworten, darauf.
Das klingt mir nach genau den Fragen, die aufkommen in dem Alter, in dem Marielou zu sein scheint. Ich kenne das. Mir ging es auch so als ich Mitte Dreißig war: was vorher gut und richtig war, schien es plötzlich nicht mehr zu sein. Was sich vorher fest und überzeugt anfühlte, wurde plötzlich unsicher und hinterfragt. Es fühlte sich an, als würden die Warums und Weshalbs hinter jeder Ecke lauern, an jedem Tag und in jedem Lebensaspekt. Als wolle das Leben noch einmal neu aufgebaut werden. Als sei es nicht schon anstrengend genug gewesen, das aufzubauen, was ist: wollte mein Leben sich noch einmal definieren und neu erschaffen. Leider scheint es dabei oft wie ein quengelndes Kind, das nicht sagt was es will, sondern nur, was es nicht will. Und wenn es etwas will, dann weiß es nicht, wie es das bekommen kann.
Die Menschen nennen dies auch gerne eine ‚Midlife-Crisis‘, und packen ihre Gefühle in diese Schublade. Sie machen die Schublade fest zu, belächeln ihren Inhalt, und tun die Gefühle als nicht ernst zu nehmen ab.
Ich mag keine Schubladen, und das Wort Krise erst recht nicht. Ich sehe mir lieber Marielou an als das, was sie gerade ist: eine Persönlichkeit, die kurz vor der vermutlichen Mitte ihres Lebens angekommen ist. Ist es für diese Persönlichkeit nicht ganz normal nachzufragen, was war, was sein sollte, und was ist? Um daraus abzuleiten, was kommen soll? Ich finde das ist gesund, es ist eine Art von autobiografischer Bestandsaufnahme: welche Träume hatte ich einmal, welche davon wurden Realität, welche nicht? Und wenn nicht, warum? Sind noch nicht verwirklichte Träume noch von Bedeutung, oder im Laufe der Zeit uninteressant geworden? Gibt es Visionen, die erfüllt werden wollen?
Es ist wichtig für ein gutes und glückliches Leben, diese Fragen für sich zu beantworten, und zu überprüfen, was wie wann umgesetzt werden könnte von all dem, was noch auf Umsetzung wartet. Darüber nachzudenken, welche Form und welcher Zeitpunkt sich dafür eignet.
Meist ist es die innere Stimme, die einem das alles verrät.
Jeder Mensch hat seine Antworten, zu seiner Zeit. Wichtig ist, sich Gelegenheit zu geben sich selbst zuzuhören, damit die innere Stimme nicht verstummt, müde und erschöpft vom Überhört-werden. Die Menschen sind so unachtsam gegenüber ihrer inneren Stimme. Dabei ist die doch die weiseste Begleiterin, die der Mensch nur haben kann. Der inneren Stimme zuzuhören ist schwierig, wenn eine Tätigkeit und Verpflichtung der nächsten folgt, wenn der Tagesablauf fest geplant ist, Verantwortungen wahrzunehmen sind, Dinge erledigt werden wollen.
Aber die kann warten, so eine ‚Midlife-Crisis‘. Sie gibt erst Ruhe, wenn sie beantwortet ist, oder wenn sie erstickt wurde. Bevor sie erstirbt, begehrt sie aber erst noch mehrmals kräftig auf; denn sie versucht hartnäckig, ihre Wünsche durchzusetzen. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Und ich bin gespannt darauf, welche Erfahrungen Marielou damit machen wird.
Ein neues Jahr hat begonnen. Es ist Mai inzwischen. Dass alles gut ist, wie es ist, stimmt nicht mehr. Es stimmte an der Nordsee, im letzten Sommer. Aber nicht in meinem Stadtleben, in diesem Frühjahr. Den Winter über haben sich meine Fragezeichen hinter der Arbeit versteckt, ich habe mehr Zeit im Büro verbracht, als geplant war. Jetzt bin ich wieder bei meiner Teilzeit angekommen, und da tauchen sie wieder auf, die Fragezeichen vom letzten Jahr.
Sie wollen wissen, ob ich zufrieden bin mit meinem Lebensentwurf. Und sie wollen wissen, wie es mit der Marielou weitergeht, die im Norden leben möchte.
Im letzten Sommer entstand diese Idee, mein Leben durch mehrere Reisen in den Norden in Einklang zu bringen. Inzwischen bin ich noch nicht einmal mehr die, die überhaupt in den Norden reist, denn: mir ist das Geld ausgegangen. Knappheit. Immer bei null am Ende des Monats. Die Kehrseite der Teilzeitarbeit, nun spüre auch ich sie: das Teilzeitgehalt reicht für das Existenzielle, aber im Moment nicht für mehr.
Vielleicht habe ich den Winter über auch zu viel für vermeintlich existenziell notwendig gehalten, und das Sparen auf den Sommer im Norden vergessen? Zu verlockend war es oft, mich nach einem anstrengenden Arbeitstag mit etwas besonderem, Käuflichen, zu belohnen. Bei drei bis vier Arbeitstagen pro Woche habe ich das nicht, dieses Bedürfnis nach Belohnung. Da belohnt mich die viele frei verfügbare Zeit.
Ein Sparbuch habe ich noch, eines für ‚Notfälle‘. Aber da ran zu gehen, damit tue ich mich schwer - für einen neuen Aufenthalt an der Nordsee, in diesem Häuschen, an das ich so oft denke?
Andererseits begehrt mit dem beginnenden Sommer auch die Sehnsucht nach St. Peter-Ording enorm auf. Die Sehnsucht danach, den Horizont zu sehen. Die Sehnsucht nach Menschenleere und Wattenstille. Nach Ausbruch aus der engen, vollen Stadt. Nach Alleinsein, mit mir.
Bald habe ich eine Woche Urlaub. Was mache ich damit?
Sehne mich nach einem Wink des Schicksals. Ich nenne das so: wenn etwas passiert, oder mir etwas begegnet, das mir unmissverständlich klar macht, was mein nächster Schritt sein soll. Dieses Etwas kann ein Gesprächsfetzen sein, den ich aufschnappe, oder ein Plakat. Ein Flyer, der irgendwo rumliegt, und auf mich zu warten scheint. Irgendetwas eben, das mir einen Impuls gibt. Die Frau im Zug hat so einen Gesprächsfetzen in mir hinterlassen. Die Frau im Zug auf der Fahrt nach St. Peter-Ording, im letzten Sommer. Komisch, dass ich mich immer noch daran erinnere. Manche Sätze hallen scheinbar sehr lange nach. Sie sagte in ihr Handy etwas von der Angst, die der Freiheit entgegensteht.
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