Meine Freiheit wäre jetzt ein Urlaub im Norden. Die Angst um meine finanzielle Situation steht ihr entgegen.
Tausche ich Freiheit gegen Sicherheit? Dafür fühle ich mich zu zögerlich. Dazu fehlt mir der Mut. Dafür fehlt mir der Wink des Schicksals.
Früher habe ich mich immer auf ‚das Schicksal’ verlassen – nun bin ich enttäuscht von ihm, weil es sich nicht zeigt. Früher hat sich das Schicksal öfter mal eingemischt in mein Leben. Hat mir Jobs besorgt, oder hilfreiche Kontakte. Hat mir Freunde vorgestellt, uns zusammengebracht. Mit ‚meinem’ Haus im Norden vom letzten Jahr, da hatte es auch seine Finger im Spiel, das Schicksal. Über Linda hat es den Kontakt zwischen mir und der Besitzerin des Hauses, Frau Martens, hergestellt. Und die wiederum hat mich an Herrn Hansen verwiesen. Ohne diesen Kontakt wäre ich nie an meinen Lieblingsfleckenerde auf Eiderstedt gekommen.
Aber jetzt? Wo ist es? Wo ist der Wink, der mich lotst, durch diesen Sommer, mit zu wenig Geld zum Reisen?
Es helfen nur zwei Dinge in dieser Wartezeit: zu tun, was zu tun ist, und einen guten Draht zur inneren Stimme aufbauen. Also los. Schwimme ich weiter im großstädtischen Treiben, meinen Tätigkeiten, und höre mir dabei zu.
Plötzlich prallt etwas hart in meinem städtischen Alltag auf: der Tod. Ein guter Bekannter, einer aus der Arbeitsgruppe, ist mit Anfang fünfzig gestorben. Einfach so, auf einer Dienstreise. Seinen Vortrag hatte er zuvor noch gehalten. Ausgelaugt war er. Ausgelaugt vom vielen Ehrenamt und Engagement, das ihm wohl viel ideelle Anerkennung brachte, umso weniger finanzielle allerdings. Ausgebrannt war er, und ausgelaugt. Das Herz hat sich verabschiedet.
Der meldet sich nicht an, der Tod. Er steht überrumpelnd, erschlagend, einfach so da und greift zu.
Visionär war er, auch Hedonist, irgendwie auch Anarchist, und bodenständiger Träumer. Schöne Abende habe ich mit ihm erlebt, zuletzt den im indischen Restaurant. Er kippte den Gratis-Mangolikör in den Schnaps, den er sich bestellt hatte, weil der Schnaps allein so widerlich schmeckte. Und weil er sehen wollte, wie sich die Mischung verhält. Er hob theatralisch gestikulierend die Arme und rief „es lebe das Proletariat“ als ein Obdachloser das Restaurant betrat und fragte, ob er die Toilette benutzen könne. Er schwärmte von seinem verfallenen Schloss in Tschechien, zu dem ich in diesem Sommer unbedingt mit sollte, nicht zuletzt, weil er mich endlich mal vögeln wollte, was er - frank und frei wie immer - offen kundtat. Abende mit ihm waren einfach immer fantastisch, amüsant und inspirierend.
Nun, genau drei Wochen nach dem Restaurantbesuch, ist er tot. Habe die Todesnachricht per E-Mail erhalten. Gruselig ist das. Inmitten von Spam und Newslettern steht der Tod eines Menschen, den ich auf die uns eigene Weise lieb hatte und sehr schätzte. Aber es gibt nun mal weder den geeigneten Zeitpunkt, noch die geeignete Mitteilungsart, für eine solche Nachricht.
Und jetzt das Gedankenchaos: schöpfe ich alles aus, was das Leben mir anbietet? Gehe ich verschwenderisch, womöglich geringschätzend, mit seinen Angeboten um? Verpasse ich zu viel, lehne ich zu viel ab? Warum setze ich so manches, von dem ich träume, nicht schneller um?
Vielleicht bleibt ja gar nicht mehr viel Zeit ...
Sentimentalitäten der Trauerphase? Oder sind nicht genau das die Fragen, die wir uns täglich stellen sollten? Dann ist das hier gerade gar kein Gedankenchaos, sondern Klarheit.
Vor Jahren fuhr ich einmal mit einer Freundin, in deren Auto, im Berliner Umland an Rapsfeldern entlang. Sie fuhr viel zu schnell, und die Rapsfelder wurden zu gelber, strukturloser Fläche. Ich ging davon aus, dass es gleich kracht, und Es zu Ende ist. Mein Geist hob irgendwie ab, Bilder meines Lebens zogen an mir vorbei im Schnelldurchlauf, und ich weiß noch, dass ich dachte:
„Ich habe alles ausgekostet und ausgeschöpft in meinem bisherigen Leben - alles ist gut. Schade nur, dass ich Tim nicht mehr erzählen kann, wie schön dieser Tag war.“
Es krachte nicht. Aber für dieses Erlebnis bin ich noch heute dankbar. Ich habe daraus meine ‚Rapsfeld-Theorie‘ erschaffen:
An dem Tag meines Lebens, der mein letzter sein wird, möchte ich nicht denken müssen „hätte ich doch ...“.
Und dieser Tag kann immer sein. Heute, morgen, übermorgen. Wie damals, bei den vorbeiziehenden Rapsfeldern, möchte ich auch jetzt, in jedem Moment, mein Leben so führen, dass ich beruhigt sein kann es ausgeschöpft zu haben. Gelingen aber, tut das nicht immer. Leider gibt es dennoch Lebensphasen, in denen ich ‚das Rapsfeld’ fürchte. Weil etwas in der Pipeline der Umsetzung hängt, was ich mich noch nicht traue.
Vielleicht sollten wir alle unsere Schnäpse mischen, wenn sie einzeln nicht schmecken, und sehen, wie sich die Mischung verhält.
Die Nachricht vom Tod hat gedankliche Konsequenzen, als wäre ich im Watt: sie öffnet mir die Augen, erweitert mein Blickfeld, und zwingt mich hinzusehen, auf die vielen Möglichkeiten, die ich habe. Diese Nachricht schleudert mich mit beiden Beinen auf den Boden und fragt:
„Was willst du? Tu es!“
Dabei ist das letzte ‚Tu es’ noch gar nicht lange her. Habe mich wieder tätowieren lassen, nach einer Ewigkeit des Wünschens. Über die alten Tattoos bin ich noch heute glücklich - warum nicht also ein neues? Meine Tattoos sind wie Marker, die ich mir gesetzt habe, über Jahre verteilt. Jedes einzelne erinnert mich an bestimmte Phasen meines Lebens, Erlebnisse, Vorkommnisse, die mich geprägt haben. Aufgezeichnete Fragmente einer Lebensgeschichte, individuell und subjektiv deutbar nur. Vor ein paar Wochen kam ein neues dazu: das, das schon im letzten Sommer am Ordinger Strand durch meinen Kopf geisterte, das ich skizzierte in mein Notizbuch, als ich im Strandkorb saß. Dieses neue Tattoo markert die Phase meines Lebens, in der ich ‚meinen’ Ort an der Nordsee gefunden habe, den Ort, der mir das Herz erwärmt, der mich willkommen hieß, an dem ich sein will, immer und immer wieder.
Eine neue Heimat kam dazu, zu meinem Leben. Ein neuer Hafen, den ich neben meinem Zuhause in Berlin gerne ansteuere. Das neue Tattoo ist ein Anker. Symbol der Hoffnung.
Ohne Anker, ohne Hoffnung, entsteht kein Handeln. Die Hoffnung ist wie ein Motor, ein Antrieb. Schiffe haben meist mehrere Anker, für die unterschiedlichen Anlässe und Vorkommnisse, auf rauer, oder ruhiger See. Mein Leben auch: hat mehrere Anker, die ich dort auswerfe, wo Sinn und Leidenschaft für das Tun spürbar sind. Und die ich auch wieder einholen kann, wenn es Zeit ist, die Reise fortzusetzen ...
Die Reise jetzt, in diesem Frühsommer, wohin soll sie gehen?
Das aktuelle „Was willst du? Tu es!“ - was ist das?
Die Zeit jetzt ist überlagert vom Tod. Kein freier Kopf für eigene Pläne. Die Arbeitsgruppe trifft sich wieder. Nicht um über die Zukunft der Arbeit zu diskutieren diesmal, sondern um den Tod eines engagierten Mitstreiters zu verkraften. Zu versuchen, ihn zu verkraften. Um einen Nachruf zu schreiben. Um es zu teilen: das nicht fassen können und annehmen müssen.
Ich bezweifle, ob meine Art zu trauern die gemeinsame ist. Lieber tue ich das allein, mit meinen Erinnerungen an ihn, nicht mit fremden. Die Gedenkfeier im großen Kreis lasse ich aus. Dass ich an ihn denke, egal wann und wo, das zählt.
Und er, zusammen mit seinem Tod, er schleicht in meinem Denken herum, überall. Verwirrt es, reißt Schubladen auf, weggeschobene Gedanken raus, als wolle er mein Gehirn entrümpeln. Habe Angst, nicht das aufzugreifen, was sich mir bietet. Nicht das aufgegriffen zu haben, was sich mir geboten hat.
Panik ob potenzieller vertaner Chancen breitet sich in mir aus.
Was ist mein Lebensentwurf? Was treibt mich um? Was treibt mich an? Reicht es aus, achtsam gegenüber möglichen Veränderungen im Leben zu sein? Reicht es aus, darauf zu warten, dass sie anklopfen? So habe ich mir das im letzten Sommer zusammengereimt. Jetzt frage ich mich, ob ich nicht doch selbst mehr Veränderung anstoßen sollte?
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