Ein paar geschriebene Zeilen von Vater.
Die schwarzblaue Tinte war zum Ende hin leicht verwischt und ich hatte Mühe sie zu entziffern. Ich hielt das Blatt wie gebannt in meinen Händen.
Mein Sohn,
eine ruhelose Seele, die nach Recht sucht, wirkt wie ein hungerndes Raubtier. Es ist sich seiner Fähigkeiten nicht mehr bewusst. Solange ein Antlitz deine Sinne verwirrt und dein Geist dir jegliche Besonnenheit nimmt, ist deine Stärke getrübt. Die Einsamkeit bleibt vom Winde verweht zurück.
Dein Vater
Ich griff verhalten nach dem Brot anstatt dem Schinken.
Mira stand still am Herd und schaute mich ernst und fragend an. Solche Worte hätte ich ihm nicht zugetraut. Er schien weiser zu sein, als ich es jemals von ihm zu glauben gewagte hätte. Er hatte sich in all den Jahren nach seinem Tod verändert. Seine Einstellung war milder geworden und seine Worte an mich ergaben zum ersten Mal einen tieferen Sinn. Trotzdem wollte ich noch eine Aussprache mit ihm. Ich wollte mehr über sein damaliges Denken erfahren und warum er früher so oft überreagierte. Schweigend legte Mira mir ihre Hand auf die Schulter. Eine vertraute Schwingung ging von ihr aus. Ich umfasste ihre Hüften und schaute lächelnd zu ihr hoch. Sie roch nach Geborgenheit, Wärme und Liebe. Nach allem, was ich mir bei einer Frau jemals vorgestellt hatte. Ihre Hände erwiderten meine Gesten und strichen mir sanft über meinen Kopf. Sie gab mir einen leichten Kuss auf die Stirne und sagte:
„Du musst jetzt gehen, Wulf. Wir sehen uns später wieder.“
Gefühlvoll legte sie mir ein kleines goldenes Medaillon in meine linke Hand. Eine eingravierte Waage, deren Schalen parallel zueinander angeordnet waren. Mein Sternzeichen.
„Bewahre es tief in deinem Herzen. Es soll ein Zeichen meine Dankbarkeit sein, dass du gekommen bist.“
Ich stand auf, nahm Miras Gesicht in beide Hände und küsste sie zärtlich auf den Mund.
„Wann sehe ich dich wieder?“, fragte ich ungeduldig.
„Bald, Wulf.“ Ihre Stimme klang zuversichtlich, aber auch traurig zugleich.
„Wo und wann?“
„Du wirst mich finden. Schon bald…, schon bald...“, hörte ich ihre Stimme nur noch von weitem. Dann war sie verschwunden.
„Mira!!“, rief ich aus Leibeskräften und fand mich plötzlich auf meiner Waldbank wieder. Irritiert schaute ich mich um. Ich betrachtete die Bank und strich mit meinen Händen über das Holz. Tatsächlich. Alles echt. Ich kramte in meinen Hosentaschen. So ein Mist. Uhr und Handy lagen zu Hause. Die Sonne war schon beinahe hinter den Bäumen verschwunden und hatte den Abendkurs eingeschlagen. Mir war kalt und ich musste mich erst wieder in der realen Welt zurechtfinden. Wo war die Alte? War auch sie nur ein Traum gewesen? Um mich blickend suchte ich nach Spuren von ihr. Tatsächlich gab es sie. Die Blätter in denen sie mit ihrem Stock herumgestochert hatte, lagen als durchlöcherte Kreation unbeschadet an derselben Stelle. Daneben war eine Art Zeichnung zu sehen und darunter etwas erkennbar Geschriebenes in die weiche Erde gekratzt worden. Ich konnte die Schriftzüge entziffern; Gewogen und zu leicht empfunden. Und wieder das Symbol der Waage. Dieses Mal mit diagonal angeordneten Schalen. Diese Darstellung traf mich wie ein Stich ins Herz und in mir kam Frust auf. Galt es als ein Zeichen, dass ich aus dem Lebenslot geraten war? Eilig machte ich mich auf den Heimweg.
Zu Hause angekommen legte ich mich auf meine Couch und ließ alles noch einmal Revue passieren. Da ich schon immer an Träume geglaubt hatte, die so deutlich sind, glaubte ich auch damals daran, sie als Zeichen deuten zu können. Mein Kopf war schwer und meine Gedanken durcheinander. In mir war irgendetwas geschehen. Ich wurde Mira in meinen Gedanken nicht mehr los. Wie konnte mich eine Traumerscheinung nur so fesseln?
In den darauffolgenden Tagen verkroch ich mich in meiner Wohnung. Nicht nur, dass ich von niemandem im Augenblick gestört werden wollte, sondern um in Ruhe und im entspannten Zustand mir meinen Traum mit Mira weiter auszumalen. Bis ins kleinste Detail. Ich war fest überzeugt, sie in meiner realen Welt wiederzufinden. Es war nicht nur der Sex, den ich mit ihr hatte. Es war diese faszinierende Ausstrahlung von ihr. Dieses gewisse Etwas. Auch an Franzi dachte ich zwischendurch und konnte mir einfach nicht vorstellen, dass alles nur ein Traum gewesen sein sollte, zumal ich doch ihre Spuren gefunden hatte. Was war mit mir los gewesen an jenem Tag? Ich nahm mir fest vor, in der nächsten Zeit wieder ein normales Leben zu führen und die Bilder an Franzi verblassten immer mehr. Ich wollte auch nicht mehr nach dem Warum und Woher fragen. Mira allerdings bewahrte ich tief in meinem Herzen und hoffte, dass sie mir irgendwann einmal begegnen würde.
Der Song meines Handys nervte mich ununterbrochen. Es war Tatjana, meine penetrante Trennungsgeschichte, die einfach nicht aufgab, weil ich sie vor die Tür gesetzt hatte. Wegen Vergewaltigung und Nötigung meiner Nerven. Ich mochte sie absolut nicht mehr sehen. Trotzdem klingelte sie wieder und wieder an der Wohnungstür, wegen eines banalen Grundes. Also werde ich jetzt in die Offensive gehen und mich endlich zur Wehr setzen. Mit einem Ruck öffnete ich die Tür und sagte laut und deutlich:
„Was willst du denn noch von mir?“
„Nur einen Pulli! Ihm ist kalt und Oma hat keinen für ihn“, sagte sie kleinlaut.“
Ich war sprachlos. Ich, als der Getretene und Geschundene unserer vergangenen Beziehung, sollte ihrem Noch-Ehemann einen meiner Pullis geben? Hatte ich diese Geschmacklosigkeit bei ihr denn vorher nicht bemerkt?
„Ich habe keine Pullis!“, sagte ich wütend.
Den einen Dunklen, den du so und so nicht gerne angezogen hast“, drängte sie weiter.
„Hab ich im Ofen verbrannt“, sagte ich schärfer.
„Hast du jetzt einen Kamin?“, fragte sie interessiert und schlängelte sich gekonnt an mir vorbei.
„Kannst du mich nicht endlich in Ruhe lassen?“, beharrte ich weiter auf meinen Frieden.
„Irgendwo hast du auch noch ein paar warme Socken von mir herumfliegen“, sagte sie verhandelnd.
„Du meinst wohl meine warmen Socken“, bestand ich auf mein Recht.
Sie setzte sich auf ihren alten Platz auf dem Sofa
Du kannst mir ruhig einen Kaffee machen, ich geh ja gleich wieder“, sagte sie weinerlich gespielt.
Ich schaute Tatjana einen Augenblick an. Sie war mit ihrem Handy beschäftigt. Ich fand sie immer noch sehr hübsch, aber ihr egoistischer und fordernder Charakter übertünchte meine letzte Hoffnung und das scheinbar Gute, was mich am Anfang bei ihr geblendet hatte, war nur brüchige Fassade gewesen. Widerwillig kochte ich Kaffee.
„Hast du eigentlich kein Taktgefühl im Leib?“
„Doch, aber ihm ist kalt hier in Deutschland, weil er von Tunis ja ganz andere Temperaturen gewohnt ist.“
„Soll er doch einen von deiner Oma anziehen, oder sich woanders einen Pullover herholen“, sagte ich sauer.
„Wie bist du denn drauf, nur weil er so friert?“
Mir platzte langsam der Kragen. Jetzt hatte ich mich schon von ihr getrennt und nun schlürfte sie meinen eigenhändig gekochten Kaffee und forderte wegen eines dahergelaufenen tunesischen Ehemannes, auch noch meine besten Pullover von mir.
„Hast du nun einen oder hast du keinen?“, drängte sie energischer.
Ich musste husten. Vor lauter Penetranz und Respektlosigkeit. Ich wollte eigentlich ruhig bleiben, aber ich explodierte wie eine alte Dampfmaschine.
„Raus!“, sagte ich kurz und schmerzlos und stand vorne an der geöffnete Eingangstür wie ein Zinnsoldat. „So warst du schon immer. Deshalb bin ich auch gegangen!“, schrie Tatjana wütend
„Gegangen worden!“, korrigierte ich scharf.
„Hier würde ich so und so vor Kälte sterben!“, zischte Tatjana Feuer speiend meine unschuldige Flurgarderobe an und rauschte erhobenen Hauptes an mir vorbei. Gekonnt trat ich hinter ihr die Tür leger mit dem Fuß zu. Wie konnte ich so etwas nur geliebt haben? Mir war elend zumute und nach Reden und Ausheulen bei jemandem. Ach, Mira. Sie wird wohl immer meine Traumfrau bleiben. So etwas ist eine Rarität und gibt es nicht im üblichen Handel. Mein Handy meldete sich. Schon wieder Tatjana? Mit Sicherheit ist sie es. Dabei hatte ich ihr doch einen bestimmten Song als Klingelton im Handy eingerichtet. Sie hat ihre Nummer mit Sicherheit unterdrückt. Wütend nahm ich mein Handy und schrie es an:
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