Der Horizont im Norden war dunkel. Dunkle Regenwolken tobten sich über Seattle und Tacoma aus. Zu schwer und zu faul hatten sie sich zwischen Vancouver Island, der Olympic Halbinsel und dem Cascade Gebirge eingekeilt. Wenn es der schwarzen Wolkenfront gelingen sollte, sich zu befreien, würde sie an den Cascades entlang in Richtung Columbia River ziehen und dort ihre nasse Last abladen, sehr zur Freude der dort ansässigen Obst- und Weinbauern. Manchmal schaffte sie es auch dank starker Nordwestwinde über die natürliche Barriere und tobte sich dann über der Grassteppen- und Hügellandschaft des Columbiaplateaus aus.
Carl Sullivan fuhr in seinem 1978er Dodge Pick-Up dem Regen entgegen. Er war von der Interstate 5 auf den Highway 12 abgebogen. Ab und zu sah er in den Rückspiegel, wollte sichergehen, dass er nicht verfolgt wurde. Hinter Mossyrock überkam ihn ein plötzliches Hungergefühl. Er sah auf die Armbanduhr. Es war 9.00 Uhr. Er hatte schon gut 1 ½ Stunden Fahrt hinter sich. Scheinbar war sein Magen der Meinung, er könnte ein gutes Frühstück vertragen. Zeit genug hatte er dafür. Die Verabredung mit Clarisse Morgan war erst um 12.00 Uhr. Sie war wieder nach Hause zurückgekehrt. Nach Packwood, einem kleinen Kaff südlich von Mount Rainier am Cowlitz River, dessen einzige Attraktion das kleine White Pass Country Museum war, was an drei Tagen der Woche für Besucher geöffnet hatte. Für den Eintrittspreis von zwei Dollar konnte man etwas über die Geschichte der Packwood Region erfahren. Die Größe eines 25 Quadratmeter großen Raumes reichte dafür aus. Der nächste Ort war die Kleinstadt Morton. Es fing an zu tröpfeln. Wie durch ein Wunder hatten es die Regenwolken irgendwie geschafft, sich von Seattle zu lösen. Er stellte die Scheibenwischer an und fuhr die ausgeschilderte Abfahrt vom Highway hinunter. Es war die 2nd Street. Dort gab es nur die üblichen Verdächtigen. Subway auf der linken Seite und rechts einen Burgerladen Namens Spiffy Dine In. Auf beides hatte er keine Lust. Er machte sich auf die Suche nach der Main Street, in der Hoffnung, dort einen vernünftigen Diner zu finden. Der Regen wurde stärker und fing an, unermüdlich gegen die Frontscheibe zu klatschen. Sullivan stellte die Scheibenwischer auf die höchste Stufe. Sie wedelten heftig vor seinem Gesicht herum. Er fuhr langsam. Ein paar Querstraßen weiter hatte er die Main Street gefunden. Sollte er nach links oder nach rechts abbiegen? Links sah es vielversprechender aus. Und wenig später wurde seine Ahnung bestätigt. Er fuhr an einem Diner Namens ›Codys‹ vorbei. Kurzer Hand wendete er und parkte auf der anderen Straßenseite. Carl Sullivan sprintete über die Straße. Er war noch nie ein guter Sprinter gewesen und auch hier wieder nicht schnell genug. Durchnässt betrat er den Diner. Es war relativ leer für die Uhrzeit, aber vermutlich war die erste Welle Frühstückshungriger schon durch. Wie zur Bestätigung sah er an der Ecke neben der Tresentür sich stapelndes, dreckiges Geschirr. An einem der hinteren Tische saß ein älteres Ehepaar. Nach den Arbeitssachen zu urteilen, die sie trugen, kamen sie von einer der umliegenden Farmen. Sullivan hatte das Gefühl, hier genau richtig zu sein. Die Bedienung war eine Dame über siebzig, klein und zäh. Die Servicekraft in der offenen Küche hinter dem Tresen, vom Alter knapp darunter. Sie könnten Schwestern sein, sie hatten die gleichen silbrigen, weißhaarigen Frisuren. Die typische Standardfrisur der weißen amerikanischen Mittelstandsfrau ab siebzig, wie sein Freund Pete sie mal genannt hatte, als er von seiner Großmutter sprach. Carl Sullivan war noch unschlüssig, auf welchen Platz er sich setzen sollte, auf einen der Hocker am Tresen oder einen Tisch am Fenster, als nach ihm eine Dame das Diner betrat. Mit ihrem Eintreten wurde Pete’s Frisuren Theorie auch für jüngere Jahrgänge bestätigt. Sie war die jüngere Ausgabe der beiden anderen Damen, gerade mal um die fünfzig. Während Carl beim Betreten misstrauische Blicke geerntet hatte, bekam sie ein freundliches Lächeln geschenkt.
Er entschloss sich, den Tisch am Fenster zu nehmen. Als er sich setzte, stand schon Miss Silberweiß neben ihm und fragte: »Was soll’s sein, Fremder?«
Dabei reichte sie ihm die Karte. In der anderen Hand hielt sie die gläserne Kaffeekanne. Der Kaffee roch frisch gebrüht.
Carl Sullivan warf einen kurzen Blick in die Karte.
»Bacon, kann ruhig verbrannt sein, zwei Eier ›Sunny Side Up‹, Toast, Hash Browns und …« Er sah sie mit dem freundlichsten Lächeln, das er aufbringen konnte, an. »Wie sind Ihre Pancakes?«
»Die besten weit und breit«, sagte sie stolz. »Und wir haben Cranberry- und Ahornsirup. Beides traditionell handgemacht, hier aus der Gegend.«
Ihre klaren blauen Augen blitzten dabei freudig. Sie mochte Kerle mit gesundem Appetit. Es erinnerte sie an ihren verstorbenen Mann. Plötzlich verdunkelte ein leichter Schatten ihre Augen.
»Ich hoffe, Sie kommen nicht aus Seattle.«
Carl Sullivan war irritiert. »Nein, Portland.«
Sie strahlte ihn wieder an. »Kaffee, Schätzchen?«
Carl nickte.
Während sie ihm den Kaffeepott vollgoss, sagte sie: »Ich arbeite schon fünfzig Jahre hier.«
»Wow«, machte Carl, er wusste keine andere Antwort darauf und griff sich den Kaffeepott. Er nahm einen Schluck, während sie sich umdrehte und zum Tresen ging, um Carls Bestellung aufzugeben.
Eine dreiviertel Stunde später saß Carl gesättigt in seinem Pick-up und rief Bart an. Eigentlich hatte er keine große Hoffnung, aber zu seiner Überraschung ging Bart ran.
»Kannst du mir verraten, was die hier oben in Morton gegen Leute aus Seattle haben?«
Bart lachte und fragte dann neugierig: »Hast du dich wieder mit einer Kleinstadt angelegt?«
»Nein, ist nur eine Frage. Ich hab etwas gebraucht, bis mich eine alte Dame in ihr Herz geschlossen hat. Portland schien ihr lieber zu sein als Seattle. Sie hatte Bedenken, ich komme von dort.«
»Die können Großstädter eben nicht leiden. Und besonders nicht die aus Seattle. Boeing, Microsoft, Starbucks. Die ganze gut verdienende Muschpoke. Die Leute dort haben keinen Respekt.«
»Na und, Portland ist ja nun auch eine Großstadt.«
»Na ja, die einen sagen so, die anderen so. Aber sie ist definitiv nicht wie Seattle. Und erst recht nicht die Menschen. Das ist was anderes«, sagte Bart, ohne es irgendwie zu begründen. »Noch was? Ich hab zu tun.«
»Nein«, antwortete Carl und legte auf. Er fand nicht, dass er jetzt viel schlauer war.
Wenig später fuhr Carl Sullivan durch das offenstehende Tor des riesigen Grundstücks der Morgans. Die Auffahrt, die leicht aufwärts führte zu der im venezianischen Palazzostil gehaltenen Villa, war mit Zypressen gesäumt. Zwischen Auf- und Abfahrt lag eine parkähnliche Grünfläche mit einem Brunnen. Er ließ den Pick-Up direkt zwischen den beiden Säulen am Eingang stehen, stieg aus und lief die Stufen hoch. Oben an der Tür angekommen, betätigte er die Klingel aus Messing. Ein Glockenton wie vom Londoner Big Ben ertönte. Wenige Augenblicke später öffnete sich die schwere Holztür und eine schlanke junge Frau in einem geblümten Sommerkleid sah ihn fragend an. Sie war blasshäutig und hatte geweint. Die Augen in ihrem schmalen Gesicht waren gerötet, ihre aschblonden Haare waren zu einem Zopf gebunden. Sullivan schätzte sie auf 22, 23 Jahre. Sie war sehr dünn und die Blässe ihrer Haut unterstrich ihre Zerbrechlichkeit. Sullivan vermutete, dass sie Clarisse Morgan war. Er nannte seinen Namen. Ein kurzes Erinnern flackerte in ihren Augen auf. Sie nickte kurz und ließ ihn dann ein. Zusammen gingen sie in das große Kaminzimmer und setzten sich.
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