„Hey, du kannst dich bei mir bedanken! Hat dich Neves eigentlich nicht gelehrt, dass du niemandem trauen sollst? Vor allem nicht schönen Frauen, die auf wundersame Weise plötzlich im Wald auftauchen? Ich sehe, dein Gefährte hat dir nichts beigebracht. Er bleibt eben ein alter Haudegen und ist nicht als Lehrer zu gebrauchen. Na ja. Dafür bin ich ja jetzt da.“ Eno hörte eine glockenhelle Frauenstimme mit einem eigenartigen fremdländischen Akzent. Erschrocken öffnete er die Augen und blickte in ein braun gebranntes, hübsches Gesicht mit kristallklaren blauen Augen, einer schlanken Nase und einem vollen Mund. Lässig zog die athletisch gebaute Frau in den Dreißigern den Pfeil aus dem Kopf des Fengo, wusch ihn penibel im Fluss und steckte ihn in den Köcher zurück, der an ihrer Schulter hing. All ihre Bewegungen waren geschmeidig und präzise. Erst jetzt kam Neves vom Lager wie ein Blitz gerannt. Doch als er die Frau erkannte, lächelte er erleichtert und jede Eile fiel von ihm ab. Er blieb vor ihr stehen, und sie begrüßten sich auf eine Weise, die Eno noch nie zuvor gesehen hatte.
Neves legte die Spitzen der gestreckten Daumen und Zeigefinger aufeinander und hielt dabei die restlichen Finger zur Faust geballt vor sein Gesicht. Dann führte er die so geformten Hände bedächtig aneinander, sodass die Knöchel der gekrümmten Finger und die Handballen sich berührten, und die Daumen die beiden Zeigefinger unterstützten, die sich wie eine Pfeilspitze nach oben streckten. Langsam senkte er sein Haupt und berührte mit der Stirn die Spitze. So verweilte er einen Augenblick, hob schließlich den Kopf wieder, lächelte und breitete dabei seine Arme aus, ließ aber die Zeigefinger gestreckt und die Daumen angelegt. Es sah aus, als wolle er auf einen fernen Horizont deuten, der sich vor ihm ausbreitete. Die schlanke Frau machte dieselben Bewegungen, die wohl zu einer Art Ritual gehörten. „Du kommst spät, Tara“, sagte Neves. Das schelmische Funkeln in seinen Augen und sein breites Grinsen verwandelten den Vorwurf in ein herzliches Willkommen. „Ich wurde aufgehalten. Aber ich bin ja noch zur rechten Zeit gekommen“, dabei machte sie eine vielsagende Bewegung mit ihrem Kopf in Richtung des toten Fengos, und ihr langes schwarzes Haar floss wie Wasser auf ihre Schultern. Neves bückte sich, griff neben den toten Fengo und zog ein weißes Tuch hervor. Tara sagte „Aha, ein Chamula. Haben die Kröten also auch Chamulas. Interessant.” Eno fragte: “Was sind Chamulas?” Tara antwortete ihm, nicht ohne dabei kopfschüttelnd auf Neves zu blicken, der es wieder einmal versäumt hatte, Eno zu unterweisen. “Ein Chamula kannst du dir überwerfen und es verwandelt dich in alles, was du dir vorstellst. Es kann noch mehr. Richtig benutzt gibt es dir die Gestalt, an die du oder jemand anderes gerade denkt.“ Dann grinste sie und sagte: „Du scheinst diese Katta ja sehr zu mögen.“ Eno blickte verlegen auf den Boden und wurde rot wie reife Tomaten. Dann aber griff er blitzschnell nach dem Chamula und befühlte den Stoff oder was es auch war. Erstaunt bemerkte er: „Das kenne ich doch. Mein Tuch sieht genauso aus.“ Er ging zu seinen Sachen am Lagerplatz und zog sein Bündel hervor. Nicht ohne Stolz zeigte er es Neves und Tara. „Das ist doch auch ein Chamula, oder etwa nicht?“ Neves betrachtete es prüfend, rieb den Stoff zwischen seinen Fingern und nickte. „Ja, aber eins, was ich noch nie gesehen habe.“ Mit diesen Worten faltete er das Chamula auseinander und gab es Tara. Die sah sich den Stoff ebenfalls genau an und bestätigte Neves, dass es sich um etwas Ähnliches handeln könnte. „Probier dein Chamula ruhig mal aus, Eno“, ermutigte ihn Tara, lächelte dabei aufmunternd und drückte Eno den Stoff in die Hand. Eno nahm ihn und umhüllte sich damit. Dann dachte er an Katta. Nichts geschah, nur Neves anerkennendes Nicken und Tara’s bewunderte Blicke sagten ihm, dass irgendetwas passiert sein musste. Er faltete sein Chamula zusammen und sagte: „Das kann sicher nützlich sein, wenn man sich mal verstecken muss.“ Tara nickte: „Das wird es. Ich nehme das Chamula von dem Fengo. Neves, du hast sicher nichts dagegen?“ Neves brummte nur und packte die Sachen zusammen. Während sie alle beschäftigt waren, fragte Eno Tara plötzlich leise „Bist du meine Schwester?“ Tara richtete sich auf und auch Neves hielt plötzlich inne. „Hat dir Neves also doch etwas erzählt. Dachte ich‘s mir doch. Der alte Schlawiner. Nun, man könnte mich deine ältere Schwester nennen, so wie Neves dein Bruder ist. Allerdings sind wir nicht zusammen aufgewachsen, wenn du das meinst. Wir kennen uns und wir spüren, dass wir zusammengehören. Darum nennen wir uns auch Geschwister. Fühlst du es nicht auch?“ In diesem Moment streckte Tara eine Hand aus und berührte Eno fast zärtlich im Gesicht. Es war wie bei Neves erster Berührung, als er die Salbe auf seine Haut aufgetragen hatte, gestern nach dem Kampf mit den schwarzen Männern. Danach konnte er sich so fantastisch schnell bewegen wie Neves. Mit Taras Berührung explodierte ein Blitz hinter seinen Augen und eine heiße Welle durchfuhr seinen gesamten Körper. Als er die Augen öffnete, schien alles wieder so wie früher zu sein, und doch war etwas Entscheidendes anders als sonst. Er kam nicht gleich drauf. Aber als er den Fluss entlang blickte und in weiter Entfernung eine kleine Spinne auf dem Baum ausmachen konnte, drehte er sich sprachlos zu Tara um. „Was hast du gemacht? Ich kann ja sehen wie ein Adler.“ Tara lachte hell und erwiderte: „So sehe ich schon immer die Welt. Hier, nimm den Bogen und versuch, den Tannenzapfen an dem Baum dort zu treffen.“
„Welchen Baum meinst du? Ich sehe keinen Tannenzapfen.“
„Dort auf der Lichtung die große Tanne. Streng dich an.“ Endlich sah Eno, was Tara meinte. Dieser Baum war mindestens 50 Meter entfernt. Er spannte den Bogen, dass das Holz ächzte, zielte kurz und ließ die Sehne los. Der Pfeil schoss dahin und Eno wusste schon beim Abschuss, dass er treffen würde. „Aber wie ist so was nur möglich? Ich habe noch nie mit einem Bogen geschossen.“ „Naniten, mein Junge.“
„Termiten?“, fragte Eno und verstand nicht was Neves meinte. Tara lachte und sagte „Nein. Es heißt Naniten“, verbesserte ihn Tara und fuhr fort zu erklären „Du weißt doch, was eine Maschine ist. Nimm zum Beispiel eure Mühle im Dorf. Das ist eine Maschine. Nun stell dir eine ganz Kleine vor. So klein, dass man sie nicht sieht.“ Eno wusste nicht, wie man eine Mühle so klein machen konnte, aber er hörte aufmerksam zu. „Diese Maschine baut noch eine. Dann haben wir schon zwei. Wenn diese Maschinen wiederum andere bauen, sind es bald sehr viele. Allerdings können sie viel mehr, als sich selbst reproduzieren. Man muss es ihnen nur noch sagen. Das haben Neves und ich getan, indem wir dich berührt haben. Es ist eine Initialzündung für deine Naniten. Sie wurden von uns programmiert, und jetzt sind sie deine Diener.“ Ungläubig sagte Eno; “Du meinst, ich bin voll von Maschinen, und die schwirren alle in meinem Körper herum?” Die Augen rollend antwortete Tara: „Aber natürlich, wie bei uns. Oder was glaubst du ist der Grund, warum du so schnell heilst, nicht krank wirst, dich super schnell bewegen kannst und nun auch noch Adleraugen hast?“ „Aber was soll das alles? Wer hat diese Maschinen in meinen Körper gebracht? Wer hat euch geschickt? Warum will man mich töten?“ Zum ersten Mal erlosch das Lächeln in Tara‘s Gesicht, und sie antwortete traurig: „Wir wissen es nicht. Wir sind aus einem langen Schlaf erwacht, und jemand hat uns aufgetragen, nach dir zu suchen und dich zu beschützen. Darum sind wir hier. Wir können uns gegenseitig erkennen. Du fühlst es doch sicher auch.“ Eno nickte stumm. Da war ein Gefühl der Vertrautheit unter ihnen. Es war mehr als bei Klaus oder seinem toten Bruder Walter. Ja viel intensiver noch als bei seinen Eltern. So, als ob sie sich schon ewig kannten und vielleicht stimmte das ja auch. „Wie viele von euch gibt es?“ Diesmal war es Neves, der antwortete: „Auch das wissen wir nicht, da wir an unterschiedlichen Orten erwacht sind. Man hat mir meinen Namen genannt und mir aufgetragen, nach einem Findelkind zu suchen. Also bin ich auf die Suche nach dir gegangen und es war dein Glück, dass wir uns rechtzeitig trafen.“
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