Neves nickte verstehend und antwortete: „Gut gemacht, Junge. Du hast bereits die Infrarotsicht angewendet. Ich war so unvorsichtig zu glauben, dass sie alle tot sind. Wir müssen noch vorsichtiger sein.“
„Infra..was?“, fragte Eno, und Neves antwortete: „Wir und die Fengos verbrauchen Energie und das kann man an der Wärme, die wir abstrahlen, erkennen. Diese Wärmestrahlung wird mit den Anschuks sichtbar und nennt sich Infrarotstrahlung.“ Eno winkte ab: „Egal. Man kann sie töten. Nur das zählt.” Neves nickte nur: “Lass uns von hier verschwinden, aber zuvor begraben wir Walter.” Sie errichteten ein Steingrab auf den Überresten, und nachdem sie beide eine Zeit lang still davorgestanden hatten, begann Eno leise zu beten. Ein Holzkreuz zierte das Grab aus losen aufeinander getürmten Steinen. Ein Spruch war mit einem Messer ungelenk eingeritzt worden ‚Hier liegt Walter, der sein Leben für seinen Bruder gegeben hat. Möge er in Frieden ruhen. In ewiger Liebe und Dankbarkeit – Eno.’ Eno wischte seine Tränen mit dem Ärmel aus seinem nassen Gesicht und stützte sich schwer auf sein Anschuk. Er konnte das Grab einfach nicht verlassen. Seine Füße waren wie Blei. Neves verstand, und so standen sie eine Weile schweigend vor Walters Grab. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen und die Sonne ging im Osten auf. Ihre Strahlen kitzelten ihre Gesichter und sie sahen auf. Das erste Licht des Tages versprach Hoffnung. Eine Hoffnung, die allerdings durch nichts begründet schien. Enos rasende Wut war abgeklungen und hatte jetzt einer wilden Entschlossenheit Platz gemacht. Er biss die Zähne aufeinander, drehte sich entschlossen um und lief in den grauenden Morgen, als wüsste er, wohin er gehen musste. Neves folgte ihm schweigend.
Der Tag war noch jung, und die Sonne, die vereinzelt zwischen den Wolken hervorlugte, wärmte nicht. Es war klamm, und Eno hatte Hunger. Sie liefen schon seit mindestens zwei Stunden schweigend am Fluss entlang und Eno kam es vor, als wäre er bereits den ganzen Tag auf den Beinen. Sie hatten die Nacht kaum geschlafen, und jeder Schritt schmerzte. Obwohl Eno viele Fragen hatte, war er nicht in der Lage, jetzt mit Neves zu reden. Zu viel war passiert, und nachdem sie Walter verloren hatten, war alles anders geworden. Was sollte er nur Vater, Mutter und Karl sagen, wenn er nach Hause zurückkam? War das nun seine Familie oder was hatte Neves gemeint, als er sagte, er wäre sein Bruder? „Neves, ich habe Hunger“, sagte Eno schließlich. Er wollte noch mehr sagen, nämlich, dass er vollkommen am Ende war, dringend Schlaf brauchte und verzweifelt war, aber Neves hatte sicher verstanden. Er blieb stehen, drehte sich zu Eno um und sagte „Ich beschaffe uns was zum Essen.” Neves stellte sich an den Fluss und packte sein Anschuk. Eno glaubte zu ahnen, dass Neves damit Fische ‚sehen‘ konnte. Tatsächlich hielt er den unscheinbaren Stab einfach nur ins Wasser, und im selben Moment schwammen tote Fische auf der Oberfläche, die offensichtlich von einer unsichtbaren Kraft getötet worden waren. „Schnell Eno, sammle die Fische ein, bevor sie die Strömung außer Reichweite trägt.“ Als sie ein Dutzend zusammen hatten, machten sie Feuer und brieten vier Fische. Die restlichen nahm Neves aus und legte sie auf Steinen zum Trocknen aus. Während ihrer Flucht hatten sie noch nichts besseres gegessen. Eno wurde schläfrig, obwohl es erst Mittag war. Neves bot sich an, die erste Wache zu übernehmen. Eno nickte dankbar und schlief erschöpft ein. Ein paar Stunden später wurde er jäh aus einem tiefen Traum gerissen. Jemand rüttelte an seiner Schulter. Er sah Neves über ihm gebeugt. „Wach auf Junge. Es ist deine Wache.“ Eno rieb sich den Schlaf aus den Augen, und obwohl er meinte, gerade erst eingeschlafen zu sein, rappelte er sich auf und nahm sein Anschuk, das ihm Neves reichte. Es musste schon später Nachmittag sein. Eno blickte dankbar zu Neves, der ihn so lange hatte schlafen lassen. Was würde er nur ohne ihn anfangen? Neves rollte sich auf dem harten Boden zusammen und schlief auf der Stelle ein. Eno blieb mit sich und seinen Gedanken allein. Die Sonne stand tief und ihre Strahlen färbten sich purpurrot. Wohin sollten sie nur fliehen? Er hatte keine Antwort darauf, denn er war nie weiter als einen Tagesmarsch vom Dorf weg gewesen. Sicher, er kannte sich in der Nähe des Dorfes aus. Aber hier so weit weg von seinem Zuhause entfernt? In zwei Tagen könnte er wieder zu Hause sein. Aber wollte er das? Seine Familie in Gefahr bringen? Er musste auf Neves vertrauen. In Gedanken versunken ging Eno ein Stück flussaufwärts und kletterte auf einen Baum, der am Ufer stand. Von dort hatte er den kleinen Lagerplatz gerade noch im Auge und konnte sich gleichzeitig einen Überblick verschaffen. Der Fluss glitzerte jetzt golden unter ihm und reflektierte die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Eno kniff die Augen zusammen, und während er vor sich hindöste und sich zwang, an die schönen Dinge des Lebens zu denken, hörte er plötzlich unter sich einen Zweig knacken. Erschrocken versuchte er in den länger werdenden Schatten etwas auszumachen. Vielleicht schlich ein wildes Tier durch die hereinbrechende Nacht oder Schlimmeres. Aber alles was er erkennen konnte, war ein Mädchen, das nicht weit von ihm am Ufer stand. In ihrem weißen Kleid und der roten Blume im Haar sah sie umwerfend schön aus. Ein letzter Sonnenstrahl traf ihr Gesicht und ließ es für einen kurzen Moment aufleuchten. Ihr fröhliches Lächeln ließ zwei Reihen perlweißer Zähne erstrahlen. Kleine Grübchen bildeten sich in ihrem fein geschnittenen Gesicht, als sie ihren hübschen Kopf hob, zu ihm aufblickte und ihm fröhlich zuwinkte. Er schien sie zu kennen und seine innere Anspannung verwandelte sich in Freude, denn es war Katta aus seinem Dorf. Beim letzten Dorffest hatte er sich nicht getraut, sie zum Tanz aufzufordern, sondern sie nur angestarrt. Nun stand sie vor ihm. Sein Herz klopfte aufgeregt und er winkte ihr zurück. „Hallo Katta, wie schön dich zu sehen.“ Sie antwortete nicht, aber ihr Lächeln wurde noch heller und sie kam mit fast schwebenden Schritten näher. Eno fragte sich, was sie so weit weg vom Dorf suchte, aber sicher gab es eine Erklärung, die er gleich erfahren würde. Er beeilte sich, kletterte geschwind vom Baum, und lief ihr entgegen. Wie hübsch sie doch war, wie aus einem Traum. Eno riss sich zusammen und versuchte, nicht so erstaunt zu glotzen. Als sie nur noch zwei Schritte voneinander trennten, zerfloss plötzlich das Gesicht, als ob ein Tuch davon weggezogen hätte. Darunter kam die grausame Gestalt eines Fengos zum Vorschein, der bereits ein gefährlich vibrierendes Messer hielt. Die Klaue mit dem Dolch stieß vor und nur Enos übermenschlicher Reaktionsschnelligkeit war es zu verdanken, dass er diesem unglaublich schnell geführten Stoß ausweichen konnte. Der Fengo schien nur darauf gewartet zu haben, dass Eno unter dem wütenden Hieb hinwegtauchen würde und riss den singenden Stahl schräg nach oben. Eno bog instinktiv seinen Kopf nach hinten. Das Messer sauste haarscharf an seiner Kehle vorbei. Er verlor das Gleichgewicht, riss aber noch im Fallen seinen Fuß hoch und traf den Gegner am Schädel. Sogleich entfuhr ihm ein Schrei. Ein Gefühl, als hätte er gegen einen Granitstein getreten, breitete sich in seinen Zehen aus. Er war sich nicht sicher, einen oder gleich mehrere von ihnen gebrochen zu haben. Mit einem Satz war der Fengo über ihm, holte noch einmal mit all der mörderischen Kraft aus, die diese Wesen besaßen, und stieß den Dolch zwischen Enos Augen. Doch Eno war einen Bruchteil schneller, und der Dolch rammte sich bis zum Heft neben seinen Kopf in den Felsen, auf dem er lag. Sogar den Luftzug, den das Messer verursachte, spürte Eno an seiner Wange. Ohne Mühe zog der Fengo die Waffe aus dem gewachsenen Fels und drückte sein eisenhartes Knie gegen Enos Kehlkopf. Er bekam keine Luft mehr und seine Sinne schwanden. Mit Schreck geweiteten Augen konnte er nur noch unbeteiligt zuschauen, wie der Dolch noch einmal und diesmal wahrscheinlich erfolgreich nach oben schwang und gleich zwischen seinen Augen sein Ziel finden würde. Der kurze, lautlose aber heftige Kampf war entschieden. Voller Hass starrte Eno in die nichtmenschliche Fratze des Fengo. In diesem furchtbaren Moment von einer inneren Kraft getrieben, verschärfte sich seine Wahrnehmung und die Zeit floss so träge wie zäher Honig. Mit Verblüffung beobachtete er plötzlich, wie sich ein ganz leicht drehender Pfeil mit wunderschönen Federn, die Eno noch nie gesehen hatte, fast schon majestätisch aber unbeirrbar auf die kleine Stelle zwischen den Augen des Fengos zu bewegte, sich gemächlich in die Stirn bohrte und dann dort stecken blieb. Eine ganze Weile, so schien es Eno jedenfalls, geschah nichts. Dann, als wäre der Bann gebrochen, fiel der Fengo nach hinten und schlug schwer auf. Der Junge schloss erleichtert die Augen und schluckte hart. Seine Kehle fühlte sich wie ein Reibeisen an und schmerzte höllisch. Die Augen immer noch geschlossen, räusperte Eno sich und krächzte erleichtert: „Neves, danke, dass du mich gerettet hast!“
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