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Erst kurz bevor sie wieder ihr eigenes Haus verließ, sah sie nach Erich. Dieser lag genauso da, wie immer.
Die Schwester erschien pünktlich. „Irgendetwas Besonderes, in dieser Nacht?“, fragte sie.
Cécile schüttelte irritiert den Kopf. „Er hat eine ruhige Nacht hinter sich“, antwortete sie, nach kurzem Nachdenken.
„Bringen Sie ihn heute wieder in den Garten?“, fragte Cécile noch nach, um Interesse zu zeigen.
„Aber selbstverständlich!“, antwortete die Schwester erstaunt. „Wie immer, nach der Bewegungstherapie. Die Sonne tut ihm gut. Er hat ja sogar etwas Farbe bekommen.“ Cécile schämte sich. Das war ihr noch gar nicht aufgefallen. Diese Schwester kümmerte sich wirklich ernsthaft um ihren Mann.
Auf jeden Fall besser, als sie selbst.
Schließlich bezahle ich sie auch dafür, dachte Cécile trotzig. Aber gegen den schalen Geschmack im Mund half das nicht.
Auf der Fahrt ins Büro dachte sie über ihr Verhalten nach. In solchen Momenten wollte sie sich ändern. Aber wenn die Zeit kam, dann wurde die Gier nach Sex einfach übermächtig.
Ich brauche das, wiederholte sie für sich. Sonst halte ich die Situation nicht durch. Nicht zum ersten Mal schlich sich der Gedanke ein, wenn er doch bald sterben könnte?
Könnte, nicht müsste. Diesen Unterschied fand sie sehr wichtig.
Empfand er möglicherweise Schmerzen? Dann wäre es doch eine Erlösung für ihn.
Im Büro lösten andere Gedanken die Grübelei rasch ab. Irgendwie gewöhnte sich Cécile sogar an diesen ewigen Diskurs mit sich selbst.
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An diesem Abend sah sie zuerst nach Erich, bevor sie sich umzog. Wirklich, eine leichte Bräunung hatte seine bisher so blassen Wangen überzogen. Er sieht nicht mehr wie eine Leiche aus, schoss ihr durch den Kopf. Wann hatte sie ihn eigentlich zuletzt genau angesehen? Schon einige Zeit her, dachte sie, sonst müsste mir das aufgefallen sein.
Sein Geglotze ließ sich einfach kaum ertragen, wandte sie ein, bevor sich ihre innere Stimme mit Vorwürfen melden konnte.
Ihre beste Freundin, Nadine, hatte sich für diesen Abend angemeldet. Nur zum Quatschen, hatte sie gesagt. Seit Erich im Haus lag, hatten sie sich nicht mehr so oft gesehen, wie früher. Irgendwie bemühten sie sich, das wieder zu ändern. Jedoch blieb das Thema einfach immer das Gleiche: immer Erich und noch einmal Erich.
Kaum hatte Nadine das Haus betreten, ging es gleich wieder los. „Wie du das nur schaffst? Ich bewundere dich“, seufzte sie.
Cécile stand kurz davor, sie anzuschreien. Beherrschte sich jedoch. „Nadine, hör zu!“, sagte sie schließlich ganz ruhig. „Ich kann das einfach nicht mehr hören. Was weißt du davon, wie ich mich wirklich um ihn kümmere?“
Ihre Freundin blieb für einen Moment sprachlos.
„Du spinnst!“, antwortete sie schließlich. Ich sehe doch, wie du dich aufopferst.“
Cécile schüttelte den Kopf. „Hör bitte auf damit. Ich bin nicht so gut, wie du denkst.“ „Aber du bist doch jeden Tag bei ihm? Man sieht dich nie mehr am Abend. Wann hast du dir das letzte Mal freigenommen?“, antwortete Nadine verdutzt.
„Ich bin nicht immer da. Ich habe einen Lover“, gab Cécile zurück.
„Du hast was? Einen Lover? Erzähl ...“
Jetzt war es heraus. Das hatte sie doch niemandem anvertrauen wollen. Nadine begann sofort zu bohren. „Wie sieht er aus? Seit wann?“ Alles wollte sie haarklein wissen. Schon bald wurde aus dem Abend, einer wie früher. Sie tranken und lachten. Zur Sicherheit soweit wie möglich weg, von Erichs Zimmer.
Beide froh darüber, endlich wieder einmal von etwas anderem reden zu können. Ihre Freundschaft hatte kurz vor dem Aus gestanden, das fühlten sie beide.
Willhelm Dornbach traf drei Tage nach dem Begräbnis seines ehemaligen Chefs wieder auf seiner Insel ein. Er war von Wien nach Venedig geflogen, dann mit einer Kursfähre nach Triest, wo er seine Jacht zurückgelassen hatte.
In Pula legte er einen Zwischenstopp ein. Die gespenstische Stimmung in der Stadt erinnerte ihn an den zweiten Weltkrieg. Klebebänder an den Fensterscheiben, menschenleere Straßen. Die Geschäfte alle geschlossen. Sollte er doch besser nach Wien zurückkehren?
Aber auf seiner Insel würde bestimmt nichts passieren. Gegen Abend erreichte er ohne Schwierigkeiten sein Zuhause. Vorsichtig, wie immer, steuerte er den Bootssteg an. Von seinem Personal keine Spur. Er wurde offensichtlich noch nicht zurückerwartet. Der Bungalow, den er als Wohnung für seine Bediensteten zur Verfügung stellte, war verlassen. Niemand wohnte ständig hier, nur gelegentlich, wenn es spät wurde oder Gäste zu versorgen waren, blieb jemand auf der Insel. Auch seine Modelle verbrachten die meiste Zeit hier oder am Strand, in der Villa wollte er sie nicht ständig um sich haben, außer wenn er malte oder sie für die Nacht benutzte.
Dazu gehörte auch ein eigenes kleines Bootshaus, das ebenfalls leer stand. Dornbach war leicht verärgert. Dieses kleine Motorboot durfte eigentlich nicht ohne seine Erlaubnis verwendet werden. Es war zum Einkaufen auf dem Festland oder für Gäste reserviert, die eine Tour unternehmen wollten. Manchmal benutzte er es auch selbst, für eine schnelle Ausfahrt oder zum Angeln.
Offenbar sollte er seine Angestellten wieder einmal kräftig in die Schranken weisen. Im Alter war er immer umgänglicher geworden, das war jetzt die logische Folge. Kein Respekt mehr. Früher hätte sich niemand getraut, sich so zu benehmen, überlegte er, während er zum Haupthaus zurückspazierte.
Dass er sein Abendessen selbst zubereiten musste, störte ihn nicht, ab und zu allein zu sein, fand er erholsam. Um eine passende Flasche Wein zu holen stieg er in den Keller, wo er seine Vorratsräume völlig leer vorfand. “Alles haben sie gestohlen!“, brüllte er, obwohl ihn niemand hören konnte. Bis auf den Tiefkühler und wenigstens den Wein, alles leer. Die Haustüre hatte er verschlossen vorgefunden, also konnten es keine Einbrecher gewesen sein. Sein Personal hatte ihn ausgeraubt.
Fassungslos stand er in seinem Keller. Sein Arbeitszimmer? Schnell keuchte er hinauf, die Türe war unversehrt, nichts fehlte. Auch im Wohnzimmer, die Bilder, seine Uhren, alles da. Haben die denn nichts mehr zu essen? fragte er sich.
Sein Blick fiel auf die gegenüberliegende Küste. Das Festland, südlich seiner Insel, in der Dämmerung kaum noch zu erkennen. Er fröstelte unwillkürlich. Alles dunkel, keine Lichter, das kannte er noch. Die rechnen mit Luftangriffen, das war ihm sofort klar. Er war doch nur eine Woche weggewesen. Verschwinden solange man noch kann, ging ihm durch den Kopf. Die Wertsachen im Bunker verstecken, dann gleich am frühen Morgen wieder auf die Jacht. Sollte er vielleicht besser gleich gehen. Er war hundemüde von der Reise, auf eine Nacht kam es jetzt auch nicht mehr an. Falls doch etwas passierte, konnte er immer noch in seinen Bunker fliehen.
Wozu brauchst du einen Bunker? hörte er Kreidel noch sagen, als sie über den Bauplänen gesessen hatten. Er löschte alle Lichter, eine Kerze genügte. Zum Kochen war ihm die Lust vergangen. Etwas Käse und getrocknetes Fleisch lag noch im Kühlschrank. Dann legte er sich früh schlafen, um am Morgen wieder fit zu sein.
Kaum eingeschlafen, schreckte er wieder hoch, regelmäßige Explosionen, Bomben, das war ihm sofort klar. Ein gigantisches Feuerwerk im Süden, seine Fensterscheiben klirrten, Schlag auf Schlag kamen die Detonationen näher. Was sollte er mitnehmen? Schnell raffte er das Kerzenpaket zusammen, das Feuerzeug, das er in der Küche liegengelassen hatte, eine Wasserflasche die daneben stand, alles in den Händen, rannte er die Kellertreppe hinunter. Bevor er die massive Betontüre hinter sich schloss, zögerte er noch einmal. Das Leben riskieren für ein Stück Trockenfleisch?
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