Nichts rührte sich. Beruhigend war, dass keinerlei Verwesungsgeruch festzustellen war. Weder in der Ruine, noch aus dem Rohr. Sie einigten sich darauf, dass sie am Morgen mit der Suche, das bedeutete graben, beginnen würden.
Die Reise war anstrengend gewesen, Dornbach, für Kreidels Leute, Winkler, befand sich nicht im Keller oder er schlief tief und fest. Dass sie nicht zurückkommen durften, ohne den Keller zu durchsuchen, hatte Kreidel klar befohlen.
Den ganzen Tag brauchten sie, um die Bunkertüre freizulegen. Da sich die ganze Zeit nichts rührte, rechneten sie nicht damit, etwas zu finden. Schon bald zeigte sich, dass die Türe zwar einen kleinen Spalt offenstand, aber ohne den ganzen Schutt davor wegzuräumen, ließ sie sich nicht bewegen. Endlich konnte sich der Vorarbeiter durchzwängen.
Dornbach lag kalt und steif im hinteren Teil unter dem Lüftungsrohr, die toten Augen starrten an die Decke.
Auf der felsigen Insel konnten sie ihn nicht begraben, deshalb ließen sie ihn auf dem offenen Meer in die Tiefe gleiten.
***
Kreidel war sich nicht sicher, ob es noch möglich gewesen wäre, ihn zu retten, wenn er früher reagiert hätte. Alles was ihm berichtet wurde, deutete darauf hin. Weil er keinen Arzt mitgeschickt hatte, war die genaue Todesursache Dornbachs nicht mehr zu klären. Vielleicht besser, wenn ich das nicht weiß, legte Kreidel für sich fest. Er hatte schon viele Freunde verloren, auf die eine oder andere Art. Im Alter wurde er immer einsamer, wie die meisten. In seinem Fall, kam noch dazu, dass er nur mit denen von früher, ohne sich zu verstellen, reden konnte. Weder seine Frau, noch die Kinder wussten, was er im Krieg für eine Rolle gespielt hatte.
Er hatte sich vorgestellt, wenn er dement werden sollte, konnte Dornbach ihn erlösen, bevor er selbst etwas ausplauderte. Zyankalipillen hortete er noch genug. Früher oder später, hätte er ihn auch um Hilfe bei der großen Aufgabe gebeten, die er noch zu erledigen hatte. Deshalb musste er sich jetzt beeilen, die Sache zu Ende zu bringen. Ob es noch gelingen konnte? Kreidel hatte selten an sich gezweifelt, jetzt bedrückte ihn eine dumpfe Angst vor seinen letzten Jahren, die er doch immer genießen wollte. Die Pflicht, aus der er sich nicht lösen konnte, wurde zum Fluch. Den Letzten, beißen die Hunde, dachte er bitter.
Grübelnd saß Krüger an seinem Schreibtisch. Der Blumenstrauß auf dem Nebentisch deprimierte ihn noch zusätzlich. Trotzdem ließ er ihn stehen.
In Gedanken erlebte er noch einmal die Beerdigung seiner Praktikantin. Wie er sich dazu durchgerungen hatte, doch hinzugehen.
Vor der Begegnung mit ihren Eltern hatte er richtig Angst gehabt. Nicht eine Angst wie vor einer realen Gefahr. Er hatte Atemnot bekommen. Seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.
Wortlos hatte er deshalb die Hand ihrer Mutter ergriffen. Sie umarmte ihn. Krüger blieb einen Moment fassungslos. Wusste die Frau denn nicht, wer vor ihr stand?
„Sie waren ihr Chef“ sagte sie leise zu ihm.
Also wusste sie es doch.
„Ich bin gefahren“, schluchzte er zurück. Die Tränen ließen sich jetzt nicht mehr aufhalten. „Ich schäme mich so“, brachte er noch heraus.
„Der Herr hat sie uns gegeben und wieder genommen“, antwortete sie. „Sie trifft keine Schuld“.
Das hatte Krüger tief beeindruckt. Natürlich hatte er an ihrem Tod Schuld, daran gab es für ihn keinen Zweifel. Er selbst war nicht religiös. Eine Kirche betrat er höchstens bei Beerdigungen oder bei Hochzeiten. Trotzdem wurde ihm ein Teil der Last genommen. Wie gut, dass er sich der Mutter gestellt hatte.
Die Sitzungen bei der Psychologin hatten ihm dagegen kaum geholfen, dachte er. Obschon irgendwie der dumpfe Schmerz, der ihn ständig begleitete, langsam nachließ.
Gegen das Krankenhaus lief ein Verfahren. Wie sich abzeichnete, kam einer dieser Krankenhauskeime als Ursache in Frage.
Endlich kramte Krüger die Akte Obermann wieder einmal aus der Schublade. In seiner Abwesenheit hatte sie noch ein Stück an Umfang gewonnen: Die Obduktion von Heiko Stohler hatte den Messerstich als alleinige Todesursache ergeben.
Allerdings war Heiko nicht süchtig gewesen, wie Krüger vermutet hatte.
Der lange Bericht der Spurensicherung vom Tatort brachte kaum brauchbare, neue Erkenntnisse. Vieles in der Wohnung konnte man gar nicht mehr untersuchen. Der Abfall lag teilweise seit Jahren herum. Haare von vielen verschiedenen Menschen. Dazwischen auch Hundehaare. Fingerspuren in Mengen, die sich nicht mehr zuordnen ließen.
Offenbar hatte auch einige Zeit ein weibliches Wesen in der Wohnung gelebt. Alte Kosmetik und etwas Damenunterwäsche ließen den Schluss zu. Ein Staubsauger war jedoch nicht vorhanden. Die letzte Reinigung der Wohnung musste Jahre her sein.
Nur die Tatwaffe, trug nebst denen des Opfers frische Fingerspuren. Leider nur verwischte. Und die konnten auch vor der Tat auf das Messer geraten sein.
Ein neues Protokoll über die Vernehmung des Sohnes von Frau Obermann, dem Anwalt, weckte Krüger aus seiner Lethargie. Nach dessen Aussage hatten die Erben gemeinsam auf den Nachlass verzichtet.
***
Kanzlei Walter Obermann. In scharf gestochener Schrift, stand auf dem altmodischen Messingschild, zu lesen, vor dem Krüger bald darauf stand. Kein Hinweis, um welche Art Kanzlei es sich handelte, dachte Krüger. Das fand er doch etwas seltsam. Dreimal hatten sie sich bereits getroffen: in der Wohnung der Mutter, in Walter Obermanns eigener Bleibe und in Krügers Büro.
Um sein Bild zu vervollständigen, wollte Krüger nun auch Obermanns Arbeitsort sehen. Bei Zeugen, die nicht nur etwas gesehen hatten oder ganz zufällig beteiligt waren, ging Krüger oft auf diese Weise vor. Er sagte sich, dass jemand, der einen bestimmten Eindruck auf ihn machen wollte, kaum daran dachte, dies in jeder möglichen Lebenssituation durchzuziehen.
Der Anwalt öffnete persönlich. „Guten Tag, Herr Kommissar. Haben Sie etwas Neues?“, fragte er gleich.
Krüger erwiderte den Gruß. „Leider noch nicht. Aber ich habe noch einige Fragen.“ „Noch mehr Fragen?“, stöhnte Obermann.
Krüger beobachtete ihn genau. Er wirkte eher genervt als erschrocken. „Kommen Sie“, forderte Obermann ihn auf. „Bringen wir es hinter uns“.
Krüger sah sich kurz um. Antike Möbel. Einige echte Gemälde. Alles andere als die Wohnung seiner Mutter.
„Kaffee?“, fragte Obermann, während er auf eine gemütlich wirkende Sitzecke deutete. Krüger lehnte dankend ab. Er wollte dem zu Vernehmenden, keine Zeit zum Nachdenken lassen.
„Also, womit kann ich dienen?“, fragte der Anwalt, nachdem sie beide, Platz genommen hatten.
„Ein Kollege hat Sie kürzlich befragt. Zum Tod von Heiko Stohler“, begann Krüger. „Ich selbst konnte mich einige Tage nicht persönlich um den Fall kümmern. Aber ich habe das Protokoll gelesen. Darin steht, dass Sie auf das Erbe Ihrer Mutter verzichten?“
„Ach so“, antwortete Obermann. „Das hätte ich mir ja denken können, dass Sie das beschäftigt“.
„Inwiefern?“, fragte Krüger.
„Weil das auf ein Motiv hinweisen könnte“, antwortete Obermann.
„Ein Motiv“, gab Krüger zurück. „Sie werden doch gar nicht verdächtigt?“ „Woher weiß ich das?“, antwortete der Anwalt. „Es wäre doch naheliegend, dass die Erben ihre Anzahl verkleinern wollten, um die Anteile zu erhöhen. Oder nicht?“
Krüger konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „So einfach sind wir nun auch wieder nicht gestrickt“, gab er zurück. „Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass Sie etwas verbergen wollen. Etwas, das auf keinen Fall ans Licht kommen soll“, fuhr Krüger fort. „Falls Sie Recht haben sollten“, antwortete Obermann. „Dann erwarten Sie doch nicht wirklich, dass ich Ihnen darauf antworte?“
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