Es war genau dieses Oder?, zu dem er irgendwann gekommen war. Denn es ereignete sich ein weiterer „Vorfall“, der ebenso unspektakulär war wie die beiden anderen, der ihnen aber doch sehr ähnelte. Noch am Wochenende hatte er mit einem Freund über das Thema „Das dritte Geschlecht“ gesprochen, was in sich schon für manche beleidigend klang, da es nach ihrer Auffassung mehr als drei Geschlechter gab. Adrian hatte gemeint, dass man es auch ein wenig übertreiben konnte und sein Freund hatte ihn als „Genderist“ bezeichnet, so eine Art Rassist für Geschlechterfragen, ein Begriff, den die Genderbewegung gerne verbreiten wollte, weil sie sich die Rechte daran gesichert hatte. Zwei Tage später dann war Adrian auf dem Geburtstag eines Freundes gewesen und dort kam dasselbe Thema auf – und es war fast so, als würde er das Gespräch mit seinem Freund nahtlos fortsetzen, war doch der Gesprächspartner auch von Statur und Sprachduktus seinem Freund nicht unähnlich. Ja, es war wirklich fast so, als wäre das Gespräch einfach weitergegangen, nur mit einem anderen Gesprächspartner. Der aber genauso sprach und argumentierte wie sein Freund. Es war fast so… als hätte man die Szene bereits fertig gehabt, aber mittendrin einfach den Darsteller ausgetauscht. Oder… als würden beide Menschen, Freund und Genderexperte, vielleicht von derselben Person „gelenkt“? Er war sich nicht ganz sicher, wie er das formulieren sollte. Wäre dies eine Art Simulation und seine Gegenüber waren keine Programme, sondern wurden von anderen Personen „gespielt“, dann wirkte es beinahe so, als wären Freund und Genderexperte von derselben Person mit denselben Ansichten und derselben Ausdrucksweise gespielt worden. So, wie die Frauen von jeweils derselben Person gespielt worden waren, die einfach ihr bestimmtes Vokabular hatte. Es war natürlich hirnrissig und unmöglich… und doch war das der Punkt, an dem Adrian an den Dingen zu zweifeln begann!
Dann erinnerte er sich an eine andere Sache, die mit einem anderen Freund passiert war. Oder vielmehr an zwei Dinge. Das eine ähnelte ein wenig den vorherigen Erlebnissen. Im Haus seiner Mutter hatte man gerade neue Schilder beim Fahrstuhl angebracht, auf denen stand „nicht anlehnen“, damit man sich nicht gegen die Schiebetür lehnte, während sie sich schloss. Die Schilder waren neu und Adrian hatte sie vor kurzem zum ersten Mal gesehen. Wenig später besuchte ihn sein Freund in seiner eigenen Wohnung in einer anderen Stadt und als sich die Fahrstuhltüren schlossen, sagte er: „Ach ja, nicht anlehnen.“ Fast so, als hätte er die Schilder in dem anderen Haus gesehen! Aber das hatte er nicht, denn seit man sie angebracht hatte, war er nicht dort gewesen. Als würde er Wissen benutzen, das Adrian hatte, aber nicht er …
Wobei auch einmal das Gegenteil eingetreten war. Er hatte Adrian einen Witz erzählt. Und eine Woche später erzählte er ihm denselben Witz noch einmal. Adrian meinte darauf, den hätte er ihm schon letzte Woche erzählt, doch sein Freund meinte: „Das geht gar nicht, den hab ich erst diese Woche gelesen!“ Fast so, als wären diesmal unterschiedliche Personen „hinter der Person“. Aber das konnten ja auch einfach menschliche Fehler sein, denn dass Leute etwas vergaßen, war ja nicht unbedingt neu.
Es gab aber auch andere Dinge, die, nunja, merkwürdig waren. Kleine Details, die anderen vielleicht gar nicht auffallen würden, die ihm aber schon fast aufdringlich offensichtlich erschienen. Wenn Ketten von Zusammenhängen auftauchten, die in einem Film oder Buch als schlicht zu sehr auf die Nase gedrückt erscheinen würden. Zum Beispiel ging er viel zu Theaterpremieren, um als Kritiker über die Stücke zu schreiben. Er kannte einige der anderen Kritiker, teils aber nur vom Sehen. An einem Tag war er ein wenig überrascht, als er sich das Bonusmaterial zu einer alten Serie ansah, die gerade wieder herausgekommen war, in dem ihm ein bekanntes Gesicht erschien: einer der Kritiker, die er nur vom Sehen kannte. Ein Mann mit Glatze, Pjotr N’Galla, der hier über eine von Adrians Lieblingsserien sprach. Am Abend desselben Tages sprach er dann mit einem Freund, der sagte, der Kritiker des PopKulturNetzes hätte eins der Stücke, von dem Adrian ihm erzählt hatte, verrissen. „PopKulturNetz?“ hatte Adrian gefragt, „vielleicht kenn ich den ja. Wie sieht der aus?“ – „Das ist der Pjotr, son Glatzkopf“, war die Antwort gewesen. Normalerweise hätte man sich bei so was keine Gedanken machen müssen – aber wenn es innerhalb weniger Stunden passierte, kam einem das doch ein wenig merkwürdig vor.
Es gab da verschiedene Möglichkeiten. Die Frage war schlicht, wie war das Universum geartet? War es etwas, das zufällig entstanden war? Gab es eine höhere Macht? War alles Leben, das es in ihm gab, Teil einer Schöpfung durch andere Wesen oder war es schlicht und einfach entstanden, so, wie Schimmel entstand, wenn man Brot zu lange herumliegen ließ? Also war Leben etwas, das ganz natürlich entstanden war, weil das einfach so war, wenn bestimmte Faktoren zusammen kamen? Und wenn dem so war, wie war es dann möglich, dass ein Leben das andere beeinflussen konnte? Oder vielmehr Gedanken und Einstellungen?
Zwei Menschen in seinem Leben, eine Freundin und seine Mutter, sagten ihm immer wieder, dass er selbst ein wenig schuld an seinem Schicksal wäre, weil er „das schlechte anziehen würde“. „Wenn du glaubst, dass es schlecht wird, wird es auch schlecht werden“, das war der Gedanke dahinter. Es läge an seiner Einstellung, nicht an seinem Handeln. Wenn man eine positive Einstellung hätte, würden einem auch positive Dinge widerfahren, hatte man eine schlechte Einstellung waren es schlechte Dinge. Das klang auf dem Papier natürlich irgendwie vernünftig, wurde in der Form aber durch die Realität nicht ganz unterstützt. Jedenfalls dann, wenn man Einstellung durch Handeln ersetzte. Denn er versuchte, mit allen Menschen freundlich umzugehen, höflich, nett – und doch gab es verschiedene Arschlöcher, die ihm immer wieder das Leben schwer machten. Konnte es also wirklich an seiner Einstellung liegen, an seinem Glauben, wenn man so wollte? Wirkte sich das Unterbewusste auf die Umgebung, auf das Schicksal aus? Dass man, wenn man schlechtes erwartete, mit schlechtem rechnete, auch immer nur schlechtes bekommen würde? Aber, wenn dies ein zufälliges Universum war, wie war das dann möglich?
Außerdem stimmte die Theorie nicht ganz. Anfangs hatte er immer geglaubt, alles würde gut werden, hatte sich gefreut und Hoffnungen gemacht – und war dann schwer enttäuscht worden. Er hatte also daran geglaubt , dass es gut werden würde und es war trotzdem nicht eingetroffen. Deswegen hatte er sich das irgendwann abgewöhnt und hatte nur noch mit dem schlechten gerechnet, das dann dementsprechend auch eingetreten war. Aber es ersparte es einem, dass seine Hoffnung zerstört und man unangenehm überrascht wurde.
Trotzdem, wie konnte seine Einstellung, seine unterschwellige Stimmung, sich auswirken auf ein größeres System? Das war die Frage – und es gab vielleicht eine Antwort. Aber es war nicht die Antwort, die er seinen Freunden gab. Denn sie hatte zu tun mit seinen Zweifeln, seinen Zweifeln an der Realität.
Setzte man also mal als Möglichkeit voraus, dass es keinen Gott gab, dass sie nicht alle geschaffen worden waren und dass sie einfach entstanden waren. Dann war es sehr unwahrscheinlich, dass sich seine miese Stimmung auf sein Schicksal auswirkte, wenn er zwar so dachte , aber nicht so handelte . Sicher, wenn man alle Leute schlecht behandelte, musste man sich nicht wundern, dass man auch schlecht behandelt wurde, aber wenn man nur dunkle Gedanken hatte, aber nicht nach ihnen handelte, erklärte das nicht, dass dunkle Dinge passierten. Und doch war es so. Zumindest bei ihm.
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