Wenn er also nun den ersten Gedanken mit dem zweiten verband, dann kam er… zu etwas, das er wirklich niemandem erzählen durfte, wenn er nicht wollte, dass man ihn wegsperrte, in dieses neue Irrenhaus in der Rio de la Plata Provinz. Was also, wenn das gar nicht alles echt war? Oder, um es genauer zu sagen, wenn seine Welt nicht echt war? Ja, das war Paranoismus in seiner höchsten Form, aber es war zumindest etwas, das die beschriebenen Erlebnisse erklären würde. Was also, wenn die Welt, in der er sich aufhielt, nicht die Realität war?
Sicher, sie fühlte sich so an, alles fühlte sich echt an – musste man zumindest annehmen, denn, streng genommen, wenn man aus einer anderen Realität stammte, an die man sich nicht erinnern konnte, konnte man auch keine Unterschiede feststellen. Alles war so real, wie es sein sollte – abgesehen von den beschriebenen Ausnahmen. Für die würden sich sicher rationale Erklärungen finden, wenn man jemanden fragen würde, aber auch die fanden sich für nahezu alles, wenn man sich einmal intensiver damit beschäftigte. Zum Beispiel wäre eins der Gegenargumente, die jemand bringen würde, wahrscheinlich:
„Aber es gibt doch Filme darüber.“
Die gab es, Filme, in denen gezeigt wurde, dass die Figuren in einer Art Phantasiewelt, einer Scheinwelt oder Simulation lebten – also genau das, was er von der Welt, in der er gefangen war, inzwischen vermutete. Also konnte man sagen:
„Wenn es Filme über dieses Thema gibt, dann ist deine Theorie damit widerlegt, denn wenn deine Welt wirklich nur eine Simulation wäre, würde man dir sicher nicht solche Hinweise darauf geben, dass so etwas überhaupt existieren könnte.“
Und den Punkt sah er völlig anders. Denn je komplexer eine Simulation war – und sie musste schon sehr komplex sein, um jemanden davon zu überzeugen, dass er es mit der Wirklichkeit zu tun hatte – umso mehr würde sie nicht nur Details bieten, sondern auch Dinge, die dem Zweifler den Wind aus den Segeln nehmen würden. Wenn es keinerlei Beispiele in der Fiktion für derlei Scheinwelten geben würde, wäre der Mensch dazu verleitet, anzunehmen, dass er vielleicht in einer solchen feststecken würde. Ein starkes Dementi schien oft ein Zeichen dafür zu sein, dass etwas vertuscht werden sollte. Es weckte Zweifel. Also musste die Simulation cleverer sein als der Mensch, der in ihr steckte, und ihm zeigen: Ja, wir haben auch an die Möglichkeit gedacht, dass du das annehmen könntest, deshalb haben wir dir schon mal gezeigt, dass andere das auch haben. Quasi die Simulation innerhalb der Simulation. Wer würde denn schon etwas so komplexes einbauen? Nun, derjenige, der nicht wollte, dass man Zweifel bekam, weil „die Realität“ eine Möglichkeit nicht offerierte. Es war kompliziert und gleichzeitig einleuchtend. Und so wurden durch diese Filme Zweifel am Zweifel bei ihm gesät – doch die nahmen mehr und mehr ab.
Denn alles würde, da war er sich sicher, weit mehr Sinn ergeben, wenn es nur eine Scheinwelt war. Und mehr und mehr gab er sich der Vorstellung hin, dass es sich um eine handelte. Die Frage war, welche Rolle er darin spielte?
Auch da gab es unendliche Möglichkeiten. Beispiele, aus den Scheinwelten innerhalb der Scheinwelt. Auslandende Computerspiele, in denen man durch Städte fahren und Figuren treffen konnte. Was, wenn er nur eine solche Figur war, in einer Scheinwelt auf einer höheren Ebene? Was, wenn seine Aufgabe darin bestand, ein Randcharakter zu sein, der einfach nur über die Straße ging. Was, wenn das die Aufgabe von jedem von ihnen war? Und irgendjemand anders, auf einer höheren Ebene, spielte dieses Spiel? Was, wenn er nur deswegen Bewusstsein hatte – oder glaubte, eins zu haben – damit es für den Spieler irgendwie realistischer wirkte? Was, wenn all sein Bewusstsein und all seine Zweifel ebenfalls nur programmiert waren? Was, wenn er eine Randrandfigur war, eine, die nichtmal wirklich zum eigentlichen Spiel gehörte, sondern die ein Programmierer eingebaut hatte, um zu sehen, wie sie sich entwickelte, was passierte? Was, wenn er und andere Programmierer Wetten darauf abschlossen, was er tun würde? Oder ob er jemals herauskriegen würde, dass er nur eine Figur in einer Simulation war? Was, wenn genau das herauszufinden seine eigentliche Aufgabe war?
Dann blieb ihm immer noch eins verwehrt: Es zu beweisen. Denn er konnte die tollsten Theorien aufstellen, einen Beweis hatte er dadurch noch lange nicht. Er würde in dieser Scheinwelt versauern… und vielleicht war das ja sein Leben? Vielleicht stammte er nicht aus einer anderen Realität und war hier eingeschlossen aus welchen Gründen auch immer, vielleicht war er wirklich von hier, Teil eines Programms, das innerhalb des Programms ein ganz gewöhnliches Leben führte, bis es irgendwann starb – und vielleicht liefen woanders noch unzählige dieser Programme mit unzähligen Variationen von ihm und vielleicht kamen die alle zu demselben Schluss, dass mit der Welt, in der sie lebten, etwas nicht stimmen konnte? Aber wenn dem so war, dann war es auch egal, da er dann Teil dieser Realität war und damit sein Leben in ihr hatte, wie es ein normaler Mensch in einer normalen Welt hatte – und doch hatte er irgendwie Zweifel daran, dass es so war.
Es gab nämlich noch mehr Zweifel, die er an der Wirklichkeit hatte – oder vielmehr daran, dass es sich um eine zufällige Welt handelte, in der alles passieren konnte. Zum Beispiel Glück. Das gab es. Oder vielmehr das Gegenteil davon. Pech. Glück und Pech existierten – und das mehr, als der handelsübliche Zufall erklären würde. Aber in einer zufälligen Welt konnte es so etwas wie Glück eigentlich nicht geben, oder? Und doch war es da. Zum Beispiel, was Fahrräder anging. Damit hatte er immer Pech. Er konnte noch so angeblich unzerstörbare Reifen installieren – sie wurden immer platt.
Und dann gab es da noch das SinnFinnBinnHinnianische Essen. Die hatten zusammen mit irgendeiner ausgestorbenen Erdreligion eine Reihe von Restaurants eröffnet und Adrian war ein großer Freund dieser Küche. Immer, wenn er seine Mutter besuchte, was allerdings nur etwa zweimal im Jahr vorkam, gingen sie zusammen zu einem ihrer Lokale – denn er kam freitags und am Freitag gab es dort ein Buffet. Immer . Bis auf das eine Mal, wo die Tochter des Hauses gerade ihren Abschluss an der Universität gemacht hatte und das Restaurant geschlossen war. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, wenn Adrian zweimal pro Jahr kam, ausgerechnet diesen einen unwahrscheinlichen Termin zu erwischen?
Nun, er schaffte es. Zweimal ! Denn nur etwa ein Jahr später besuchte er seine Mutter wieder und diesmal wollten sie ein anderes SinnFinnBinnHinn-Lokal besuchen… das ausgerechnet an dem Tag für die Öffentlichkeit geschlossen war. Also fuhren sie zu dem alten Restaurant und Adrian meinte vorher noch: „Das hat bestimmt auch zu.“ Und er hatte recht. Es war geschlossen. Für immer. Pech!
Er änderte etwas an seinem Verhalten. Nichts spektakuläres, nur etwas… Praktisches. Oder unpraktisches, in dem Fall. Er machte keine Pläne mehr! Denn wann immer er sich etwas vornahm, kam irgendwas dazwischen. Oder fast immer, aber immer noch oft genug! Also versuchte er, so offen wie möglich zu sein, seine Tage nicht zu planen , sondern Möglichkeiten zu haben, von denen er die verwirklichte, bei denen das Schicksal ihm nicht sagte, dass sie heute nicht stattfinden würden. Flexibilität statt Planung – vielleicht ein System, das man auch anderen Leuten empfehlen sollte? Wenn es denn welche gab. Da war er sich noch nicht so ganz sicher. Obwohl es ihm ein wenig wie Verschwendung erschien, eine doch recht große und komplexe Welt nur für ihn allein zu erschaffen – und irgendwie klang das auch, als würde er sich zu wichtig nehmen.
Und ja, manchmal wusste er im Vorfeld, was passieren würde – oder er nahm es zumindest an und dann kam es auch so. Seine Mutter hätte jetzt wieder gesagt, dass er selbst daran schuld war – aber vielleicht war er das ja auch. Nur eben nicht in einer normalen Welt. Aber hier, in seiner Welt , hatte er manchmal das Gefühl, dass er die Welt vielleicht wirklich unbewusst beeinflussen konnte – negativ , aber immerhin beeinflussen. Oder aber er hatte langsam erfasst, wie die Welt in etwa funktionierte – er hatte nur leider noch keinen Weg gefunden, wie er das für sich nutzbar machen konnte!
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