„Aber“, hatte Alma trotzdem zornig gerufen, „aber ich bin froh, dass der alte Kerl tot ist! Wenn ich jemanden gehaßt habe, so war er es; ja, ich hasse ihn noch ...“
„Gut, gut“, hatte Doll sie unterbrochen. „Er ist tot, wir wollen ihn vergessen. Wir wollen nie mehr von ihm sprechen.“
Und sie sprachen nicht mehr von ihm, ja, Dr. Doll sah, wenn er in die Nähe des Hauses kam, geflissentlich die andere Straßenseite an, während seine Frau das Haus immer wieder mit gereizter oder spöttischer Miene musterte. Beides sprach nicht ganz für das von Doll gewünschte Vergessen, und sie wußten auch beide – trotz ihres Schweigens – sehr gut, dass sie weder vergessen konnten noch vergessen wollten. Dafür hatte ihnen beiden der tote Tierarzt Wilhelm zu viel Herzeleid angetan.
Auf seinem Türschild nannte er sich Tierarzt, aber er war ein so großer Feigling, dass er sich kaum je an ein krankes Pferd oder Rind herangetraut hatte. Die Bauern wußten das so gut, dass sie ihn höchstens zur Rotlaufimpfung der Schweine holten, daher trug er weit und breit den Übernamen „Farken-Willem“: Ferkel-Wilhelm. Ein großer schwerer Mann in den Sechzigern, mit einem fahlgrauen Gesicht, das stets so grämlich verzogen war, als schmecke er Galle.
Dieser Tierarzt besaß keine einzige Fähigkeit, die ihn vor dem niedersten Durchschnitt ausgezeichnet hätte, bis auf die eine, dass er eine ungewöhnlich feine Zunge für Weine hatte. Schnaps und Bier trank er auch, aber nur um ihres Alkoholgehaltes willen, denn er war längst das geworden, was man einen „mäßigen Trinker“ nennen kann: er brauchte jeden Tag eine bestimmte, nicht einmal übermäßig hohe Alkoholmenge. Aber nichts ging ihm über den Wein, und je besser seine Kreszenz war, um so glücklicher wurde er. Dann glätteten sich sogar die galligen Falten in seinem Gesicht, und er konnte lächeln. Für einen Mann von seinem Einkommen war das eine etwas kostspielige Leidenschaft, doch meist wußte er, wie er zu seinem Rechte kam.
Gegen fünf Uhr nachmittags hielt ihn nichts mehr im Haus, konnte der dringendste Anruf ihn nicht mehr zu einem kranken Tiere locken; er nahm seinen Stock, setzte sein Jägerhütlein mit einem Dachspinsel auf und wanderte gravitätisch, immer in Kniehosen, die Füße gespreizt sehr auswärts setzend, die Straße entlang.
Dr. Wilhelm – Farken-Willem – hatte nur wenige Schritte zu gehen, so konnte er schon in ein kleineres Hotel treten, das einstens für ihn eine wahre Weinrente bedeutet hatte, nämlich als der selbst ins Trinken verliebte Wirt noch lebte. Nach seinem Tode wurde das Haus aber von der Witwe und je länger je mehr von der jüngsten Tochter regiert, einem Mädchen voll unbegreiflicher Launen, ja, von direkten Antipathien besessen, von denen eine – und nicht gerade die schwächste – dem Tierarzt Dr. Wilhelm galt.
Der Tierarzt mußte zu seinem tiefsten Kummer erleben, dass die Tochter des Hauses ihm immer häufiger die bestellte Flasche Wein verweigerte und ihm nur ein Schöppchen brachte, während sie doch auf andere Tische noch oft genug Flaschen stellte. Beschwerte er sich dann mit seinem nußknackerhaften, gallenbitteren Munde, langsam und bedächtig sprechend, wie es seine Art war, so fuhr sie ihm schon in den Anfang seiner Rede mit ihrer raschen, scharfen Zunge hinein und rief: „Sie wollen alle Tage Ihren Wein, die andern kommen nur dann und wann – da liegt der Unterschied! Sie können nicht allein all unsere Vorräte austrinken!“
Oder sie antwortete auch gar nichts. Oder sie sagte, rasch nach dem Römer fassend: „Wenn Sie den Schoppen nicht wollen, nehme ich ihn gern wieder mit. Sie müssen ihn nicht trinken!“ Kurz, sie ließ ihn alle Tage aufs deutlichste merken, wie abhängig er doch mit seinen Trinkerwünschen von ihren Launen war. Er aber mußte ihr Schimpfen wie die immer geringer werdenden Zuteilungen mit galligem Seufzen ertragen und kam doch jeden Tag wieder, ohne Würde und ohne Scham.
Vom Hotelchen wanderte der Tierarzt dann gravitätisch auf seinen sehr auswärts gesetzten Füßen durch die halbe Stadt bis zum kleinen Bahnhof, wo er meist kurz vor sechs Uhr den Wartesaal zweiter Klasse betrat. Oft hatte er dann das Glück, am Stammtisch, an dem auch ihm ein Platz zustand, den reichen Kornhändler der Stadt zu treffen, der ihn stets gerne an seinem Weine teilnehmen ließ. Saß dieser Händler aber mit einem oder mehreren Kunden an einem Sondertisch, so trat auch hier der Tierarzt hinzu, sagte ernst „Mit Verlaub“ und wurde meist aufgefordert, mit Platz zu nehmen. Denn hier konnte der Dr. Wilhelm eine andere Seite seines Wesens geltend machen: er besaß ein ziemliches Repertoire derbster ländlicher Geschichtchen und Witzchen, die er in einem echten, bodenständigen Platt zu erzählen wußte. Ganze Gelächtersalven antworteten oft dem Erzähler, der doch nicht eine Miene seines galligen Gesichtes verzog, dadurch die Wirkung seiner Geschichten nur noch steigernd und die Laune der Kunden des Kornhändlers verbessernd.
Im übrigen schnitt der Tierarzt in der Bahnhofswirtschaft auch sonst meist günstig ab. Er war dort Stammgast seit Jahrzehnten. Seit Jahrzehnten hatte er von etwa sechs bis acht Uhr abends an diesem Stammtisch gesessen, früher mit seiner Frau, nach ihrem Tode allein. Der Bahnhofswirt Kurz hielt auch ihn knapp, aber er ließ den alten Kunden meist nicht ganz ohne Stoff.
Um die Abendbrotzeit leerte sich der Wartesaal schnell, und auch Dr. Wilhelm setzte seinen Stab weiter. Was ihn nun in dem führenden Hotel des Städtchens erwartete, stand ganz dahin: es konnte viel, es konnte auch so gut wie gar nichts sein. Zwar floß der Wein noch willig in diesem Hause, aber der Wirt war ein Mann, der es liebte, Geld einzunehmen, und je mehr, um so lieber. Selbst als das Geldeinnehmen schon ziemlich sinnlos geworden war, da es für Geld kaum noch etwas zu kaufen gab, setzte der Wirt die Preise für seine Flaschenweine immer höher, so dass der Kauf auch nur einer Flasche weit aus dem Bereich des Möglichen für einen Schweineimpfer gerückt war, dessen Tageseinnahme häufig noch nicht einmal fünf Mark betrug.
So war hier Dr. Wilhelm ganz auf sein Glück angewiesen; oft mußte er Stunde um Stunde vor einem Glase des kriegsmäßigen Dünnbiers sitzen und beobachtete dabei gallig die Offiziere der SS, die eine Flasche nach der andern tranken. Sie baten ihn nie an ihren Tisch – die SS hielt sich stets vom kommunen deutschen Volke fern. Oder aber ein Hitler-Jugendführer von noch nicht zwanzig Jahren schwelgte mit seinem Mädchen in Süßweinen – auch hier war keine Nachfrage nach dem alten, geschichtengewandten Tierarzt.
Das waren schwere Stunden für einen alten Alkoholiker, dem das Trinken Lebensbedürfnis war. Wenn so die Zeit verstrich, die Nacht vorrückte, die Gäste immer betrunkener lärmten und der weißhaarige, stets voll Bonhomie lächelnde Wirt an die Polizeistunde erinnerte ... Wenn er einsehen mußte, dass an diesem Abend bestimmt nichts für ihn abfiel, da doch so viele herrlich alkoholisiert waren ... Wenn er dann nach dem Bezahlen seines Bieres die kümmerlichen Groschen und Scheinchen in seiner Tasche zusammenzählte, ob sie nicht vielleicht doch wenigstens zu einem Schnäpschen reichten, und er wußte doch schon vorher, sie reichten bestimmt nicht ... Wenn er dann schließlich mit einem schweren, bösen Seufzer Stock und Hut in die Hand nahm und in die Nacht hinaustrat, zu seinem Heim zu wandern ... Und wenn er dann an die vor ihm liegende Nacht dachte, in der er sich den Schlaf mit dummen Tabletten rufen mußte, den doch der Alkohol so göttlich voller Träume schenkte ... Dann wurde sein ledernes Gesicht womöglich noch gelber als zuvor, der Neid auf alle und alles zwackte ihn zum Erbarmen, und er hätte gerne und ohne Besinnen die ganze Welt untergehen lassen, wenn ihm das nur eine einzige Flasche Wein eingetragen hätte –!
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