1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Mr. Bernstein schien peinlich berührt und wechselte das Thema.
„Wie war der Umzug? Ist alles gut gegangen?“
„Oh, etwas chaotisch, und vieles haben wir noch nicht wiedergefunden, aber das kriegen wir in den Griff.“
Er wies mit dem Zeigefinger über die Schulter zur Tür. „Ihre Tochter?“
Sie nickte. „Sie müssen verzeihen. Sie ist zwar ein aufgewecktes Mädchen, aber wenn sie sich mit Fremden konfrontiert sieht, ist sie … naja, etwas scheu.“
Mr. Bernstein nickte verständnisvoll. „Das muss in der Schule ziemlich schwer für sie gewesen sein.“
„Zu schwer. Sie ist seit Jahren nicht mehr zur Schule gegangen. Es gab da einige schlimme Dinge mit ihrem Kunstturntrainer. Das ist schon Jahre her, aber wir haben noch immer etwas daran zu knabbern.“
Er nickte. „Ich glaube, ich erinnere mich. Die Geschichte ging auch durch die Nachrichten. Wurde er nicht freigesprochen?“
Ann nickte bedrückt. „Ich hege die Hoffnung, dass der Ortswechsel ihr gut genug tut, dass sie vielleicht endlich ihren Schulabschluss macht.“ Sie warf ihm einen unsicheren Blick zu. Erst der Patzer mit dem Kompliment und jetzt schüttete sie ihm auch noch ihr Herz aus. Das war überhaupt nicht ihre Art. Vor allem der Missbrauchsfall ging ihren Arbeitgeber überhaupt nichts an! Doch Mr. Bernstein hatte eine so liebenswerte und väterliche Art an sich, dass sie die Last der vergangenen Jahre einfach nicht zurückhalten konnte.
„Und das können Sie ja jetzt auch“, lächelte Mr. Bernstein beruhigend, „und für Ihre Tochter hätte ich vielleicht auch eine Lösung.“
Ann blickte ihn verwirrt an. „Wie meinen Sie das?“
„Nun, mein Neffe Albert wird in einigen Tagen in der St. Georg Secondary School den Unterricht besuchen. Es gibt dort eine spezielle Klasse für junge Erwachsene, die vorher keine Möglichkeit hatten ihren Abschluss zu machen. Ich kenne die Klassenlehrerin sehr gut, und sie hat einigen Einfluss bei dem Direktor der Schule. Wenn Shornee möchte, könnte ich mit ihr reden.“
Ann fühlte sich völlig überfahren. „Aber …“
„Oder wollen Sie nicht?“ Mr. Bernstein schmunzelte.
„Nein … Doch, ja. Ich meine“, sie suchte einen kurzen Augenblick nach den richtigen Worten. „Ich verstehe das nicht.“
„Was?“
„Ich suche schon seit über fünf Jahren nach Arbeit und dann stellen Sie mich nur aufgrund einer Empfehlung und eines kurzen Telefonats ein. Sie vermitteln uns dieses hübsche kleine Häuschen und jetzt haben sie auch noch einen Schulplatz für Shornee …“
Er lächelte. „Mrs. Smith …“
„Verstehen Sie mich nicht falsch …“
„Mrs. Smith“, unterbrach Mr. Bernstein erneut. „Ich habe keine bösen Absichten.“
Sie schwieg.
„Mike hat mir einfach nur viel von ihnen erzählt, und wir fanden beide, dass Sie ein bisschen Glück verdient haben.“
Anns Gesicht verfinsterte sich. „Mr. Bernstein, sie sind ein wirklich netter Mann, aber wir …“
Er winkte beschwichtigend ab. „Aber Sie brauchen keine Almosen“, beendete er ihren Satz. „Und ich gebe auch keine. Immerhin bekommen Sie Ihr Gehalt hier nicht umsonst, die Miete für das Häuschen müssen sie ebenfalls selber tragen, und was die Schule angeht … Shornee kriegt ihren Abschluss auch nicht einfach so geschenkt. Mein Beitrag dazu besteht nur aus ein paar Telefonaten, die mich noch nicht einmal nennenswerte Zeit kosten.“
Ann schwieg beschämt.
„Sehen Sie es doch einmal so: Sie und Ihre Tochter sind hier völlig fremd. Alles was ich Ihnen gerade gebe, ist eine Starthilfe. Den Rest müssen sie schon selbst machen.“
Ann nickte betreten. „Bitte entschuldigen sie meinen Ausbruch.“
„Es gibt nichts zu entschuldigen“, lächelte Mr. Bernstein. „Also wenn Sie die Stelle immer noch haben wollen, könnten wir uns jetzt über die Konditionen unterhalten.“
*
Es war ein merkwürdiges, leicht prickelndes Gefühl, das Shornee dazu veranlasste, endlich den Kopf zu heben. Sie konnte es nicht genau in Worte fassen. Es war genauso anziehend wie furchteinflößend, und dass auch Mrs. Milton erwartungsvoll aufsah, erschreckte sie etwas.
Unter dem Bogengang tauchte die imposante Gestalt eines dunkelhaarigen, athletisch gebauten Mannes im schwarzen Maßanzug auf.
Shornee war wie gebannt. Sie hatte das Gefühl, dass bei jedem seiner Schritte die Luft vibrierte.
„Guten Morgen, Herr von Falkenberg“, krächzte die Sekretärin heiser.
„Ist er da?“ Seine Stimme hatte einen tiefen angenehm warmen Klang.
„Oh … er ist …“
Er brachte sie mit einer kleinen Geste zum Schweigen und ging weiter auf die Tür zu.
„Er hat ein Bewerbungsgespräch“, rief sie ihm hastig hinterher.
Herr von Falkenberg hielt einen kurzen Augenblick inne, bevor er nach der Türklinke griff. „Bringen Sie mir ein Glas Wasser“, wies er Mrs. Milton an. „Und für die hübsche nasse Dame einen heißen Tee.“ Er schmunzelte über die Schulter hinweg in Shornees Richtung, die wie erstarrt dasaß und krampfhaft die nicht vorhandenen Fliegen an der gegenüberliegenden Wand zählte, und betrat das Büro.
„… und jeder der Mitarbeiter arbeitet zusätzlich zwei Samstage im Monat. Wenn Sie ihre Ko…“, Mr. Bernstein brach ab, als er hinter sich das leise Klacken der Tür hörte.
„Guten Morgen, Nathaniel“, begrüßte er von Falkenberg, ohne sich umzudrehen. „Wir sind hier gleich fertig.“
„Ich habe Zeit“, erwiderte dieser und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand neben der Tür.
Ernest richtete seine Worte wieder an Ann. „Nun, wie gesagt, wenn Sie … Ann? Hören Sie mir noch zu?“
Ann zuckte leicht zusammen und riss sich mit Gewalt von den bernsteinfarbenen Augen des ungebetenen Gastes los. „Oh, verzeihen Sie, Mr. Bernstein, ich war etwas aus dem Takt geraten.“
„Ich wollte nur noch sagen, dass Sie die Samstage auch mit Kollegen tauschen können. Das überlasse ich immer den Angestellten.“
Sie nickte nervös und konnte sich nur schwer beherrschen, nicht immer wieder zu dem Mann zu schielen, der langsam zum Fenster ging und gedankenversunken hinausblickte.
Mr. Bernstein atmete tief durch, stand etwas übereilt auf, nahm den Arbeitsvertrag von seinem Schreibtisch und setzte seine Unterschrift darunter.
„Nehmen Sie ihn mit nach Hause und lesen Sie ihn sich in aller Ruhe durch. Rufen Sie mich am besten morgen nochmal an. Bis dahin habe ich auch mit Mrs. Thorn über den Schulplatz gesprochen.“ Er reichte ihr den Vertrag und gab ihr die Hand.
„Ich hoffe, Sie entschuldigen diesen abrupten Abschied.“
Ann nickte verwirrt. „Natürlich.“
„Wir hören dann morgen voneinander.“ Er lächelte ihr noch einmal zuversichtlich zu und schob sie sanft hinaus.
Ernest verharrte noch einen Augenblick mit der Türklinke in der Hand und verzog unwillig das Gesicht.
„Du hast kein besonders gutes Timing, Nathaniel“, knirschte er, als gerade in diesem Augenblick die Tür erneut geöffnet wurde und mit einem dumpfen Geräusch gegen seine Stirn stieß.
„Ihr Mineralwasser, Herr von Falkenberg“, lächelte Mrs. Milton scheu, bevor sie ihren Chef bemerkte, der sich mit verkniffenem Gesicht die schmerzende Stelle rieb. „Wie ich sehe, ist das Timing deiner Angestellten beispielhafter“, sagte Nathaniel und nahm sein Glas entgegen.
Sie lächelte verlegen, blickte wieder kurz zu ihrem Chef, stammelte eine Entschuldigung und ließ die beiden Männer allein.
„Was ist denn so dringend, dass es nicht noch zehn Minuten hätte warten können?“, fragte Ernest sichtlich genervt.
„Die Cailbrook Corporation ist auf den Spiegel von Rub al Chali gestoßen. Es heißt, sie hätten ihn bei Ausgrabungen in Ubar gefunden.“
Ernest winkte ab. „Es gibt keinerlei Beweise, dass der Spiegel jemals existiert hat. Die Bruderschaft ist schon öfters auf machtlose Artefakte hereingefallen, weil irgendjemand meinte, eine mysteriöse Geschichte darüber zu schreiben.“
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