Shornee ließ den störrischen Garderobenschrank los und marschierte schnaubend in die Küche.
„Und wie, um alles in der Welt, soll ich dann die Kartons auspacken? Soll ich alles auf dem Boden ausleeren?“
Ann blickte ihre Tochter verständnislos an. „Räum es doch in die Schränke.“
„Ja, aber …“
„Wenn du nur motzt, werden wir nie fertig.“
Shornee verdrehte die Augen, schob ihren langen Zopf wieder auf den Rücken zurück und machte sich an die Arbeit. Sie versuchte gar nicht erst, ihrer Mutter zu erklären, dass sie alles wieder aus den Schränken räumen mussten, um diese zu verrücken. Offensichtlich wurde sie durch ihren nahezu unerträglichen Optimismus am logischen Denken gehindert.
*
Als die beiden am nächsten Morgen das Haus verließen, regnete es noch immer in Strömen. Ann und Shornee pressten sich zusammen unter den alten Regenschirm, bei dem die Hälfte des blauen Stoffes mangels stabiler Streben durchhing. Bis sie endlich die U-Bahn erreichten, war Shornee vollkommen durchnässt.
„Du hättest die andere Seite nehmen sollen, Engelchen“, murmelte Ann.
„Willst du den Job oder soll ich mich da vorstellen“, maulte ihre Tochter zurück und wischte sich die Regentropfen aus den Augen.
„Wenn wir wieder zu Hause sind, gehst du gleich in die Wanne. Sonst bist du morgen erkältet.“
Shornee nickte und wies mit der Hand auf die ankommende Bahn, die sie in die Stadtmitte bringen sollte.
Die beiden hätten wahrscheinlich kaum eine andere Möglichkeit gehabt, als einzusteigen. Unnachgiebig wurden sie von dem dichten Gedränge mitgezerrt, als sich mit einem zischenden Geräusch die Türen öffneten und den Einstieg freigaben. Shornee fühlte sich hin und her geschoben. Irgendwo hörte sie ihre Mutter rufen, doch sie verstand … in den Massen, die unter hasserfüllten Rufen die Hauptstraße hinuntergetrieben wurden, kein Wort. Der Mann neben ihr stolperte und stöhnte vor Schmerzen auf, als die Nachkommenden über ihn hinwegstolperten. Auch sie wurde einfach mit dem Strom mitgetragen. Dennoch versuchte sie, noch einmal zurück zu blicken, als … sich die Türen der U-Bahn schlossen. Die Bahn setzte sich mit einem lauten Hupen in Bewegung. Shornee starrte den Mann im grauen Anzug neben sich verwirrt an. Sie war sich sicher, dass er gerade noch eine karierte Tweedjacke getragen hatte.
„Shornee?!“ Ihre Mutter stand gut vier Meter hinter ihr im Gedränge. “Alles in Ordnung?“
Sie nickte und versuchte ihrer Mutter ein Lächeln zu schenken, während sich ihre Fingernägel in ihre Handfläche bohrten. Der Schmerz half ihr, sich von unzähligen fremden Menschen um sich herum abzulenken.
„Wir steigen am Piccadilly Circus aus!”, rief Ann ihr erneut zu, während Shornee sich darauf konzentrierte, die Stimmen und Bilder in ihrem Kopf nieder zu ringen.
*
Die Bücherei lag etwas abseits vom Piccadilly Circus. Ein hohes, doch recht schmales beigefarbenes Gebäude, welches trotz der unscheinbaren Fassade gut besucht war. Die Verkaufsräume waren auf drei Etagen verteilt, und für die Kundschaft übersichtlich sortiert. Angenehme gemütlich wirkende Dekorationen, Sitzgelegenheiten und lächelnde Angestellte machten die Bücherei zu einer Ruheoase inmitten der Großstadthektik von London.
Ann und Shornee fuhren mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock.
„Sieht doch recht gut aus“, lächelte Shornee ihre Mutter zuversichtlich an.
Diese nickte. Die Aufregung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Und Mr. Bernstein hat am Telefon auch einen wirklich sehr netten Eindruck gemacht.“ Sie blickte ihre Tochter nervös an. „Drück mir bitte beide Daumen.“
„Und die großen Zehen“, bekräftigte Shornee. „Jetzt beruhig dich doch mal, Mum. Im Prinzip hat er dir die Stelle doch schon zugesprochen, als wir noch in Glasgow waren.“ Die Anwesenheit ihrer Mutter wirkte auf die schüchterne Heranwachsende wahre Wunder. Es war, als würde durch Anns Furcht Shornees Unsicherheit einem abnorm starken Beschützerinstinkt weichen.
Ann atmete tief durch. „Du hast Recht.“
„Und er hat uns das kleine Häuschen vermittelt. Das hätte er wohl kaum gemacht, wenn er dich nicht haben wollte. Es gibt also keinen Grund, nervös zu sein.“
Ann nickte wieder.
Shornee musste auf einmal kichern.
„Was ist so lustig?“ Ann warf ihr einen kurzen Blick zu.
„Stell dir doch einfach vor, du hättest ein Blind Date mit einer Internetbekanntschaft“, lachte sie.
Ann sah ihre Tochter verständnislos an. „Und du glaubst, dass mich das weniger nervös machen würde?“
Shornee hob abwehrend die Hände. „Schon gut, schon gut. Ich bin ja schon ruhig.“
„Die Frechheiten hast du bestimmt von deinem Vater.“
Sie verließen den Fahrstuhl und gingen den schmalen Gang hinunter, der durch eine Bogenöffnung ins Vorzimmer des Büros führte.
„Mrs. Smith, nehme ich an“, wurde sie von der dort sitzenden Dame lächelnd begrüßt. „Ich bin Elizabeth Milton, die Sekretärin von Mr. Bernstein.“
„Guten Morgen“, erwiderte Ann mit einem etwas scheuen Lächeln und deutete auf Shornee. „Das ist meine Tochter Shornee. Meine seelische Unterstützung.“
Shornee gab ihr zögernd die Hand.
„Du kannst hier solange auf deine Mutter warten“, erklärte sie, und wies mit einem Kopfnicken auf die Couch, die für wartende Besucher an der Wand aufgestellt war. Sie wandte sich wieder Ann zu. „Folgen Sie mir, bitte. Mr. Bernstein erwartet Sie bereits.“
Shornee beobachtete, wie die Sekretärin an die Tür an der Rückwand des Raumes klopfte, öffnete und Ann in dem Raum dahinter verschwand. Etwas hilflos blickte sie sich um.
„Du kannst dich ruhig setzen“, forderte Mrs. Milton sie erneut auf.
Shornee nickte und zog sich etwas unsicher auf die Couch zurück.
„Möchtest du etwas zu trinken?“, wollte die Sekretärin von ihr wissen, bekam jedoch keine Reaktion. Die Achtzehnjährige saß stocksteif in die Ecke gedrückt und schien sich noch schmaler machen zu wollen, als sie ohnehin schon war.
*
Ernest Bernstein war ein schlanker, hochgewachsener Mann Mitte Fünfzig und entsprach mit seinen erdfarbenen Cordhosen und dem Rollkragenpullover irgendwie dem typischen Bild eines altmodischen Bibliothekars.
„Mrs. Smith. Schön, dass Sie da sind. Wie geht es ihnen?“, begrüßte er sich beinahe überschwänglich.
Ann lächelte. Ihr Eindruck am Telefon hatte sie offensichtlich nicht getäuscht. „Alles gut verlaufen“, lächelte sie.
Er wies auf eine kleine gemütliche Polsterecke. „Setzen wir uns. Möchten Sie einen heißen Tee, Kaffee oder etwas anderes?“
„Ein Tee wäre schön.“
„Ich komme gleich wieder“, Ernest wirkte etwas verlegen, während er zur Tür ging und wies auf ein kleines Gerät auf seinem Schreibtisch. „Die Sprechanlage ist kaputt.“
Ann setzte sich und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Das Büro vermittelte einem dasselbe wohlige Gefühl, wie die Verkaufsräume unten. Einige Pflanzen und Familienbilder, die an den Wänden hingen, gaben diesem Zimmer noch eine liebevolle persönliche Note. Ihr Blick blieb an dem etwas pausbäckigen Gesicht eines blondgelockten Jungen hängen, der auf einigen der gerahmten Fotographien abgelichtet war. Eine dicke Hornbrille ließ seine Augen beinahe glubschig erscheinen.
Mr. Bernstein kehrte mit zwei Tassen Tee zurück und setzte sich ihr gegenüber in den Sessel.
„So“, begann er. „Jetzt sind wir versorgt.“
„Vielen Dank“, lächelte Ann. „Ich muss sagen, ich bin ziemlich erleichtert.“
„Wieso?“
„Dass Sie genauso nett wie am Telefon sind“, Ann biss sich verlegen auf die Unterlippe. Der Satz war ihr einfach so rausgerutscht. Dass sie gleich beim ersten Kennenlernen mit Komplimenten um sich warf, musste auf ihn wirken, als wolle sie sich einschleimen.
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