Die Idee, ab September auch vor solchen Töpfchen zu stehen und salzarme Diäten zu rühren, mobilisierte meine tatsächlich wiedergekehrten Lebenskräfte. Energisch kümmerte ich mich um einen Studienplatz im Fach Philosophie. Alex war nicht begeistert. Er wollte, daß ich einen ordentlichen Beruf erlernte. Ordentlich war für ihn, was seine Schwester tat, wenn ich nicht wie er ein Ingenieurstudium auf mich nehmen wollte. Meine Neigung zur Mathematik hatte er längst herausgefunden.
Ich blieb bei der Philosophie. Alex’ Schwester verstand mich und half. Sie kannte jemanden in Leipzig, der jemanden in Leipzig kannte, und der wieder kannte den Dekan der Philosophischen Fakultät. Eben diesem Dekan erzählte ich von dem traurigen Niedergang meiner musikalischen Existenz. Da er selbst musisch interessiert war und eine Schwester hatte, die ganz und gar in Musik aufging, wie er sagte, hatte er einiges Verständnis für musikalische Talente. Wir saßen lange in einer Speisegaststätte zusammen, wie Restaurants in der DDR hießen. Geduldig hörte er sich an, was ich zu sagen hatte über Sprache und Musik. Bei Sauerbraten mit Thüringer Klößen und Rotkohl erzählte ich ausführlich über den Zusammenhang des Bachschen Kontrapunktes mit der Hegelschen Satzmelodie und versuchte, ihn zu überzeugen, daß da strukturelle Gemeinsamkeiten bestünden, die ich spürte, aber unfähig war, sprachlich zu formulieren, was sich natürlich ändern würde, sobald ich Philosophie studierte. Ein Zusammenhang bestünde, ich hörte ihn ganz deutlich. Er könne mir schon glauben. Und was Bach betraf, glaubte er mir auch. Was er nicht glauben konnte, wie er mir später gestand, war, daß ich nicht wußte, was Philosophie in einem sozialistischen Land war.
Aber erst einmal versprach er, sich zu kümmern. Er wußte von den Schwierigkeiten der Immatrikulation für Studenten, die wie ich gestrauchelt waren, gab er mir zu verstehen. Ich solle inzwischen aber zumindest in ein Lehrbuch für marxistisch-leninistische Philosophie hineinsehen. Meinen Immatrikulationsbescheid bekam ich später von ihm persönlich zugeschickt und ging nach Leipzig.
Den an einzelne Personen gebundenen politischen Machtbefugnissen und der Möglichkeit ihrer willkürlichen Handhabe verdanke ich es, daß ich als Quereinsteigerin irgendwann immer da landete, wo ich landen wollte. Irgendeine der zuständigen Autoritäten hatte sich letztlich für mich persönlich eingesetzt und politische Verantwortung für mein Tun übernommen. Innerhalb der politischen Führungsschicht gab es immer wieder Menschen, die sich für mich einsetzten und auch ein Risiko übernommen haben, da sie damit rechnen mußten, daß ich mich politisch nicht korrekt verhielt, schon weil ich nicht wußte, was in der DDR politisch korrekt war. Damals begriff ich die Zivilcourage dieser Führungskader als menschliche Handlungen von Edelkommunisten. Daß ich politisch auch entmündigt war, begriff ich erst viel später.
In der Einführungsvorlesung für marxistisch-leninistische Philosophie erfuhr ich von einem blond und blauäugigen Professor mit Specknacken, daß hier niemand abginge, der nicht Mitglied der SED geworden sei und nicht verantwortungsvoll gegenüber dem Arbeiter-und-Bauern-Staat handeln würde. Ich hatte alle Mühe, keine Panikattacke zu bekommen.
Er sprach von der Arbeiterklasse, der zu dienen meine oberste Pflicht als Philosoph sei. Ich schluckte heftig, denn aus der Arbeiterklasse hatte sich gerade mein Vater bei der Universität gemeldet. Er hatte von meiner Mutter gehört, daß ich zum Studium nach Leipzig gegangen war. Bei der Universitätsleitung hatte er vorgesprochen. Er wollte klarstellen, daß ich erstens nicht normal sei, das könne bei den Psychiatern in Berlin nachgefragt werden, und daß ich zweitens politisch-moralisch eine Null sei. Dem Dekan erklärte er, er sähe überhaupt nicht ein, warum er für mich ein Stipendium zahle sollte. Er denke nicht im Traum daran. Er habe schließlich auch nicht studieren können. Mir erklärte der Dekan, daß meine Eltern zahlen müßten, ich könnte sie verklagen. Eltern, die über eine bestimmte Grenze hinaus Geld verdienten, müßten für das Stipendium ihrer Kinder aufkommen. Schließlich gäbe es Gesetze. Die Universität würde hinter mir stehen. Im Prorektorat für Studienangelegenheiten könnte ich die Einzelheiten erfahren.
Mir fehlte es an Kraft und Mut zu solch einem Gerichtsverfahren. Ich entschied, meine Nachtschichten in Leipzig weiterzuführen. Wenn auch nicht im Großbetrieb, sondern in der Nachtbar eines Interhotels, in der ich als Bardame vorsprach. Meine Kenntnisse von Wein, Weinbränden, einschließlich des Wissens, welches Glas für welches Getränk zu benutzen war, überzeugte das Barpersonal in einer Probeschicht. Daß ich bei meiner Großmutter für Abendgesellschaften mit dem Hauspersonal oft den Tisch decken mußte, kam mir also hier zugute. Da es ein Interhotel war, waren die meisten Getränke Import, das heißt aus dem Westen. Bei den Weinen hatte ich zu lernen, daß es ungarische, bulgarische und rumänische gab.
Da hatte ich also wieder mein Kontrastprogramm. Am Tage hörte ich Vorlesungen über die Vorzüge des dialektischen Materialismus und darüber, daß der Sozialismus siegen würde. Nachts mixte ich Cocktails und kokettierte mit den feindlichen Devisenbringern im Hotel Deutschland. Ich lernte meine Schweigsamkeit funktional einzusetzen. Ich sagte nichts, wenn ich aus meiner Buntlicht-Bar übernächtigt in die Vorlesung für Sozialismustheorie ging und hörte, daß es im Sozialismus keine entfremdete Arbeit gäbe. Ich hatte zum ersten Mal seit dem Niedergang meines musikalischen Talents wieder ein Ziel. Ich wollte wissen, was der Sinn des Lebens und der Welt war.
Damals faßte ich den Entschluß, nie Kinder zu gebären. Ich wollte zu jeder Zeit meine Zeit abbrechen können. Für den Fall, daß es nicht weiterging, wollte ich aus dem Leben gehen können, ohne daß ich Verantwortung zurückgelassen hatte, der ich hätte nachkommen müssen. Von meiner Familie hatte ich mich getrennt. Dabei wollte ich es belassen.
Die Familie, auf die ich zuging, war groß und unbestimmt, die Verantwortung praktisch folgenlos. Die Philosophen des Abendlandes, zu ihnen war ich auf dem Weg.
In Leipzig gab es einen exzellenten Gastprofessor aus der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, der Logik las. Die faszinierte mich: Dem Erlebten einen Wert zusprechen. Das bedeutete ein Maß für Erleben und Erlebtes zu finden. Ich vertiefte mich bis über den Kopf zunächst in Aussagenlogik, später dann in Widerspruchslogik. Bald hieß das Zauberwort dialektische Logik, das mich durch den Tag brachte. Die Dialektik ist die Logik der Widersprüche. Das war großartig. “Wahr” und “falsch” in einem Wert nehmen. Den Bruch zum Prinzip erheben. Was für ein Maß! Die Widersprüche benennen und sie in eine Logik bringen können. Ihnen eine Reihenfolge aufzwingen, damit sie beherrschbar werden.
Endlich hatte ich also einen zeitlosen Raum gefunden, in dem ich mich niederlassen und den ich sichermachen konnte gegen jene Wirklichkeit, in der ich mich nicht zurechtgefunden hatte. Ich war bereit, den Weg in die rationale Philosophie zu gehen. Ich war dabei, einen Faden aufzunehmen, einen, der lief, unbedingt.
Ich war fasziniert von der Methode, die mir emotional so sehr entgegenkam. Sie wurde die dialektische genannt: “Alles ist, alles ist nicht. Alles ist, in dem es nicht ist. Sein und Nichts wird zu Etwas. Was ich setzte, hebe ich, indem ich es setze, wieder auf.” Was für eine Dynamik, was für ein Klang! Das waren auch Tanzschritte: was ich in einem Schritt setze, hebe ich im nächsten Schritt wieder auf und komme trotzdem weiter. Es könnte also auch alles anders sein, als ich bisher annahm. Die Antworten, die ich bisher hatte, könnten auch Fragen sein. Wenn dem so ist, stimmte vielleicht selbst die Angst und ihre Größe nicht. Nach solcher Unschärferelation hatte ich gesucht. Sie war weit genug, damit mein Erleben einen Platz in ihr fand.
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